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"Ineffizient, ungerecht, lebensbedrohlich"

Von Cathren Landsgesell

Politik

Kostendruck, Privatisierungen und eine ineffiziente Verwaltung zerstören das solidarische Gesundheitssystem.


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Wien. Gernot Rainer, Lungenfacharzt und Intensivmediziner aus Wien begann 2015, sich kritisch mit dem Gesundheitssystem auseinanderzusetzen. Entstanden ist das Buch "Kampf der Klassenmedizin. Warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen". Das Buch ist im März im Verlag Brandstätter erschienen.

"Wiener Zeitung": Ihr Buch heißt im Untertitel "Warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen". Das heißt, das System, wie es jetzt ist, ist nicht gerecht. Inwiefern?

Gernot Rainer: Ich würde sogar sagen, dass das System das wir jetzt haben, nicht nur nicht gerecht ist, sondern Folgen produziert, die lebensbedrohlich sein können - für diejenigen, die keine Leistungen privat zukaufen können. Dabei zahlen wir alle in dieses Gesundheitssystem ein. Und das sogar zweifach: Über die Steuern und über die Sozialversicherungsbeiträge.

Haben Sie ein Beispiel für die lebensbedrohlichen Folgen?

Nehmen Sie zum Beispiel die Abklärung bei einem Verdacht auf Lungenkrebs. Lungenkrebs ist eine sehr schnell verlaufende Krebsart. Wenn ein Röntgen auffällig ist, braucht man eine Computertomografie, um zu entscheiden, wie man an eine Gewebeprobe kommt. Bis vor etwa zwei Jahren konnten wir die Patienten stationär aufnehmen und innerhalb von fünf Tagen ein komplettes "Staging" machen. Das heißt, alle Untersuchungen inklusive CT und Probenentnahme durchführen. Am sechsten Tag hatten wir dann einen Befund. Heute kann der Patient unter anderem aufgrund der massiven Bettenreduktion nicht mehr aufgenommen werden, und er muss sich selbst um alle Untersuchungstermine kümmern. Wenn er dann das CT hat, muss er wieder in die Ambulanz für die Lungenspiegelung usw. Was früher sechs Tage gedauert hat, dauert jetzt mitunter zwei Monate. Das ist ein Desaster.

Die Ursache ist aber nicht allein die Bettenreduktion, oder?

Maßgeblich für die heutige Situation war unter anderem auch die überstürzte Einführung des Krankenanstaltenarbeitszeitgesetzes 2015. Wir hatten damals Wochenarbeitsstunden von 65 und aufwärts. Das zu ändern war dringend notwendig. Aber: Man hat für die Stunden, die zuvor geleistet wurden, kein zusätzliches Personal bereitgestellt, weil man ja zugleich sparen wollte. Die Präsenzen sind irrsinnig herunter gegangen. In der Radiologie konnten wir keine Nachmittagsschichten mehr besetzen. Die Folge: Diese Leistungen, die zuvor im Spital erbracht wurden, wurden einfach in den niedergelassenen Bereich verlagert. Und damit fließen auch die Finanzströme anders. Was im Spital passiert, zahlt das Land, was der niedergelassene Arzt macht, die Krankenkasse. Auf der Strecke bleibt dabei der Patient, denn nicht nur fehlen dem niedergelassenen Bereich die Kapazitäten, um die Kappungen im Spitalsbereich abzufangen, die Kassen selbst wollen auch sparen. Für jeden Patienten im Kassenbereich gilt ja eine Deckelung. Drei Mal im Quartal wird refundiert, ab dem Moment, wo Sie das 4. Mal etwas brauchen, bekommt der Arzt kein Geld mehr dafür. Das heißt, die Ärzte haben begonnen, zu überweisen. Und damit beginnt dann die Tour von Pontius zu Pilatus für die Patienten.

Ist die Finanzierung daher das eigentliche Problem?

Ja, das Grundproblem, das alle möglichen absurden Folgen zeitigt, ist die duale Finanzierung. Üblicherweise gibt es entweder ein Steuerfinanziertes System wie in Dänemark oder ein Versicherungsfinanziertes System, das Bismark-Modell. Wir haben in Österreich ein seltsames Mischsystem, wo Spitäler zum Großteil aus Steuern gezahlt werden und das niedergelassene System von den Kassen. Nur: Die stehen sich im Weg. Bei Verhandlungen schauen sie vor allem, dass sie Kosten auf den jeweils anderen auslagern. Wir als Steuerzahler und Krankenkassenversicherungszahler zahlen das. Uns sollte aber nur interessieren, dass wir das bestmögliche Leistungsangebot vorfinden.

Es heißt doch immer, das Gesundheitssystem sei nicht finanzierbar, weil die Gesundheitskosten explodieren würden, auch. aufgrund der Demographie. Stimmt das nicht?

Doch, die Kosten sind hoch, und das System ist tatsächlich auch ineffizient. Aber das ist auch ein selbst gemachtes Problem. Das LKF-System zum Beispiel, eine leistungsorientierte Abrechnung für Spitäler, begünstigt in Kombination mit Kapazitätsreduktionen und Bettendruck, dass Patienten vorzeitig entlassen werden, mit der Folge, dass sie schnell wieder vorstellig werden. Diese Ineffizienz des Drehtüreffekts taucht in der ökonomischen Berechnung aber nicht auf. Ganz ähnlich bei den chronisch Kranken. Wir haben in Österreich eine sehr gute Akutversorgung, aber 80 Prozent der Gesundheitskosten entstehen bei zwanzig Prozent der Bevölkerung und bei diesen in den letzten Lebensmonaten. Das sind Kosten, die man durch gute Vorsorge vermeiden könnte.

Mit Vorsorge meine ich auch zum Beispiel ganz einfache Dinge, wie etwa, dass Diabetiker Fußeinlagen von der Kasse bezahlt bekommen, damit es später nicht zu Amputationen kommt, die in der Folge dann teurer sind als die Einlagen, abgesehen vom Leid der Patienten. Oder auch Polymedikationen und Doppeluntersuchungen sind vermeidbar, wenn eine Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient besteht und Patienten nicht wahllos von einem Arzt zum anderen gehen müssen. Die ökonomische Idee ist aber jetzt die nahezu totale Standardisierung. Es soll im Endeffekt egal sein, welcher Patient zu welchem Arzt geht.

Das ist das Prinzip der Primärversorgungszentren?

Ja genau. Man kommt als Patient in einen Pool, und wer halt gerade Dienst hat, ist halt gerade der behandelnde Arzt. Das ist für die Akutversorgung sinnvoll, aber nicht bei chronischen Erkrankungen.

Warum nicht?

Weil man bei chronischen Erkrankungen auf Vertrauen zwischen Arzt und Patient angewiesen ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass Patienten ab dem 70. oder 80. Lebensjahr, die an chronischen Erkrankungen leiden, etwa acht bis zehn verschiedene Medikamente schlucken. Dadurch steigt das Risiko unerwünschter Neben- und Wechselwirkungen enorm an. Wofür dann wieder neue Medikamente gegeben werden. Wenn dann nicht ein Arzt oder eine Ärztin da ist, die den Patienten kennt und sieht, wie er reagiert, entstehen unnötiges Leid und unnötige Kosten. Oder nehmen wir an, Sie sind alt und krank, nehmen viele Medikamente, ich sehe Sie das erste Mal, Sie sind verwirrt. So nehme ich an, dass ich Ihre Verwirrung behandeln muss. Vielleicht ist die aber aus den Medikamenten entstanden. Würde ich Sie kennen, wüsste ich das. Dieses Vertrauensverhältnis ist nicht zu ersetzen. Man müsste also Strukturen schaffen, die so etwas wie einen Vertrauensarzt oder eine Vertrauensärztin ermöglichen.

Was ist Ihre Perspektive für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre?

Wir brauchen eine faire gesellschaftliche Diskussion darüber. Auch wenn der Rechnungshof seit Jahrzehnten die Probleme benennt: Es besteht kein Bewusstsein davon, dass wir vielleicht Verwaltungsprobleme haben, in die Unsummen von Geldern fließen. Stattdessen setzen wir auf ökonomische Effizienz und auf Selbstverantwortung. Wir sagen den Leuten, sie seien selbst schuld, wenn sie krank werden, sie sollen halt nicht so dick werden und sich mehr bewegen. Wer es sich leisten kann, verabschiedet sich aus dem System und zahlt sich selbst eine private Vorsorge. Für das solidarische Gesundheitssystem kann sich nur die Politik einsetzen. Diese ist gefordert, die Potenziale zu entwickeln. Dazu gehört eine echte Verwaltungsreform. Momentan ist aber der Trend zu Privatisierung und Verschiebung in die Eigenverantwortlichkeit. Man sollte sich fragen, ist das fair und wollen wir das?

Der Lungenfacharzt und Intensivmediziner Gernot Rainer wurde 2015 durch die Gründung der Ärztegewerkschaft Asklepios bekannt. "Kampf der Klassenmedizin" ist seine erste Publikation.