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Infamie der Werte

Von Franz Schandl

Gastkommentare
Franz Schandl ist Historiker und Publizist in Wien sowie Redakteur der "Streifzüge" (www.streifzuege.org).

Dass wir Werte brauchen, ist das Selbstverständlichste auf der Welt. Ist es das?


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Allenthalben ist von Werten die Rede. Von Werten, die wir haben, oder welchen, die wir brauchen, von Wertewandel und Werteverfall und vor allem und unablässig von der Wertegemeinschaft. Denn die benötigen wir, unbedingt. Und die, die zu uns kommen, ebenso.

Tatsächlich legt der Singular offen, was der Plural verschweigt. Der Begriff des Werts hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor ab 1850 in alle gesellschaftlichen Bereiche gebohrt. Fortan setzte der Wert die Werte. Bürgerliches Selbstbewusstsein verläuft auf einer Skala der Ab- und Aufwertung am Markt. Das jeweilige Einkommen regelt die Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten, die auch über Integration und Desintegration entscheiden: Was haben? Wo dabei sein? Wie viel dürfen? Was darstellen? Akzeptiert wird, wer sich verwertet. Jeder Wer ist ein Was! Wer kein Was ist, ist ein Nichts! Nicht nur Arbeitslose und Immigranten spüren das, die aber ganz besonders.

Im Wert steckt auch alles drin, was uns so gespenstisch vertraut ist: die Konkurrenz, das Wachstum, das Ranking, der Preisvergleich und natürlich der Preis selbst. Der Wert prägt auch unser Vokabular. Man denke an kaum ersetzbare Begriffe wie Wertschätzung, Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll. Und der Werteworte werden mehr: Werteschulungen, Wertekatalog, Werteerziehung, Wertevermittlung, etc.

In Werten zu denken, ist Form gewordener Inhalt, wo nur taugt, was ihnen entspricht. Dass Menschen arbeitslos und obdachlos, mittellos und hilflos werden dürfen, passt zu diesen Werten, das freie Niederlassungsrecht hingegen nicht. Dafür dürfen im Namen der Werte Länder bombardiert und missliebige Regimes zu Fall gebracht werden. Auch an den unfreiwillig in Moskau und in der ecuadorianischen Botschaft in London sitzenden "Dissidenten" entpuppen und entzaubern sich diese Werte ganz fulminant.

Mission wie Emission der Werte sind geradezu das Grundproblem dieses Planeten, die Verwertung von Mensch und Natur ebenso wie die Entwertung ganzer Gruppen und Regionen. Die reine Gewalt, die sich an ihren ausweglosen Enden offenbart, ist in erster Linie Folge virulenter Werteexplosionen, die immer ihren Ausgang im Westen hatten. Das heißt nicht, dass wir hier in den Metropolen a priori bösartiger sind als die anderen, sondern bloß, dass unser Zerstörungspotenzial größer, weil entwickelter ist.

Wer sich den Werten überlässt, gerät in die kapitalistische Klapsmühle. Frauen sind nicht deshalb nicht zu vergewaltigen, weil es verboten ist. Um Kinder nicht zu schlagen, braucht man keine Werte; Menschlichkeit und Respekt, Anerkennung und Empathie reichen völlig. Werte und Bürgerliches Recht sind nur Krücken. Bei der unheimlichen Offensive der Werte geht es darum, die Reihen dichtzumachen ("Wir") und die anderen nicht als Handelnde zu konstruieren, sondern als zu Behandelnde ("Ihr"), die man entweder erziehen oder ausschließen muss. Was wir alle bitter benötigen: dass die Menschen sich und die anderen leiden können; also Freude, Freundschaft, Bewusstsein, Reflexion, Kooperation, Verantwortung, Lust, Liebe. Die Frage hingegen, welche Werte wir brauchen, ist einfach zu beantworten: Keine!