Zum Hauptinhalt springen

Infiziert

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
0

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Großbritannien muss in der EU bleiben. Und zwar weniger um seiner selbst willen - obwohl das natürlich schon auch -, sondern vor allem zum Wohl der gesamten Europäischen Union. Tatsächlich sind - in den Worten der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen - allein die Briten in der Lage, Deutschlands "exzessiven Enthusiasmus" in europäischen Angelegenheiten, das (über-)"große Pathos" Frankreichs und die "Improvisationskunst" der Italiener zu mäßigen und auszubalancieren.

Bei diesen Formulierungen schwingt natürlich ein (selbst-)ironischer Unterton unüberhörbar mit, sie treffen aber den Kern der Sache: Großbritanniens unerlässliche Rolle für ein stabiles Europa. Dabei ging und geht es stets darum zu verhindern, dass ein Hegemon den Kontinent dominiert, egal ob Spanien, Frankreich, Deutschland oder Russland. Ein Gleichgewicht der Kräfte und Mächte ist nach dieser Philosophie ein politischer Wert an sich. Sich allein überlassen, haben sich Europas Staaten noch stets ins Unglück gestürzt. Und es gibt gute Gründe dafür, dass dies auch für den europäischen Integrationsprozess im beginnenden 21. Jahrhundert gilt. Konkret droht durch den möglichen Wegfall von britischem Common Sense und Pragmatismus eine Vertiefung all jener Gräben, die jetzt schon die EU zwischen Ost und West sowie Nord und Süd durchziehen.

Diese besondere Rolle Großbritanniens setzt allerdings voraus, dass es seine einzigartige parlamentarische Kultur, seine kulturelle und wirtschaftliche Offenheit, seinen pragmatischen Realismus beibehält. Tatsächlich mehren sich im Zuge der Brexit-Kampagne die Anzeichen, dass die politische Kultur der Insel nicht länger gegen genau jenes Virus immun ist, das regelmäßig den Kontinent befällt. Dabei trifft eine zynische Elite auf eine außer Rand und Band geratene Medienöffentlichkeit, die beide mit den Ängsten und Sorgen einer - nicht zuletzt ökonomisch - tief verunsicherten Bevölkerung spielen.

Der Streit um die Rolle Großbritanniens vergiftet nicht erst seit der Ansetzung des Brexit-Votums die einst vorbildhafte demokratische Kultur des Landes. Die Politik der radikalen Gefühle hat nun endgültig auch die Insel erreicht, Gewalt nicht länger ausgeschlossen, wie der Mord an der jungen Labour-Politikerin zeigt. Die einstige Hochburg der Vernunft droht im Ozean der Marktschreier und Lautsprecher unterzugehen.