Die Notenbanken sorgen dafür, dass derzeit nicht zu wenig Geld in den Wirtschaftskreislauf fließt. Strittig ist indes, welche Auswirkungen das auf die Entwicklung der Verbraucherpreise hat.
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Vom großen österreichischen Dramatiker Johann Nestroy stammt der viel zitierte Satz: "Die Phönizier haben das Geld erfunden - aber warum nur so wenig?" Nun, es gibt wohl weiten Konsens, dass jedenfalls die Notenbanken derzeit nicht zu wenig Geld bereitstellen. Keinen Konsens aber gibt es hinsichtlich der Frage, welche Inflationseffekte unter dieser Perspektive zu erwarten sind.
Es gibt eine Reihe anerkannter Ökonominnen und Ökonomen, die auf mittlere Sicht speziell für die USA einen deutlichen Anstieg der Inflationsraten erwarten. Die wichtigste Argumentationslinie bezieht sich dabei auf die Verbindung einer außerordentlich expansiven Finanzpolitik mit einer ebenso expansiven Geldpolitik. Mittelfristig würde das zu einer Überauslastung der verfügbaren Ressourcen einer Volkswirtschaft - und damit zu entsprechenden Preissteigerungen - führen. Kurzfristig hat die expansive Finanzpolitik in der Krise einen Rückgang der Einkommen verhindert. Diese verfügbaren Einkommen wurden freilich zu einem erheblichen Teil für höhere Ersparnisse verwendet.
Dies wird als eine - freilich stark abgeschwächte - Konstellation analog zu Zeiten nach Kriegen gesehen, wo bei "Normalisierung" der Abbau der angehäuften Ersparnisse auf ein begrenztes Güterangebot trifft - mit entsprechend inflatorischen Effekten. Ebenso kann es durch Anpassungsverzögerungen und frühere Investitionsrückgänge im Zuge der wirtschaftlichen Normalisierung zu Engpässen kommen. Dies zeigt sich derzeit in spektakulären Preissteigerungen für einzelne Vorprodukte und im Schiffstransport. Mit unterschiedlichen Anpassungszeiten werden diese Preiserhöhungen aber wieder zu einer Vergrößerung des Angebotes und damit zu einer "Normalisierung" der Preisentwicklung führen.
Ein längerfristig orientiertes Argument bezieht sich auf die geopolitische Entwicklung, die zu einem Rückgang im Ausmaß der wirtschaftlichen Globalisierung führen könne. Damit würde das treibende Element zur Eindämmung der Inflation in den vergangenen Jahrzehnten wegfallen. Eine ebenfalls langfristige Perspektive betrifft die demografische Entwicklung. Diese werde speziell in den hoch entwickelten Staaten Europas zu einer Knappheit an qualifizierten Arbeitskräften führen. Das wird wieder die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, die durch die Globalisierung geschwächt wurde, wieder stärken. Entsprechend höhere Lohnabschlüsse würden, zumindest teilweise, zu höheren Preisen führen. Hier gibt es freilich auch gegenläufige Perspektiven der Wirkung zunehmender Automatisierung.
Deutlicher Preisschub durch Sondereffekte erklärbar
Schließlich wird sich das wachsende Gewicht von umweltorientierten Lenkungssteuern, speziell CO2-Abgaben, als Element einer Kosteninflation erweisen - vergleichbar einem "Ölschock auf Raten". Zwar können die negativen sozialen Auswirkungen (vielleicht) durch gegenläufige Entlastungen kompensiert werden. Der - bei Lenkungsabgaben ja erwünschte - Preiseffekt wird aber jedenfalls bestehen.
Aus der Sicht einer "monetaristischen Ökonomie" wird auf die massive Erhöhung der Geldmenge durch die Notenbanken hingewiesen. So stieg in den USA die Geldmengengröße M4 im ersten Quartal 2021 gegenüber dem Vorjahresquartal um 25 Prozent. Aus dieser Entwicklung wird mit einer Verzögerung von etwa zwei Jahren ein deutlicher Preisschub erwartet. Zwar gab es in den vergangenen Jahren keinen gesicherten Zusammenhang zwischen Geldmengenentwicklung und Inflation. Mit einer "Normalisierung" der Wirtschaftslage würde aber die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes wieder zunehmen und damit das Inflationspotenzial.
Als Gegenposition zu Inflationsbefürchtungen wird argumentiert, dass - anders als nach Kriegsereignissen - die Produktionsrückgänge durch die Pandemie gesundheitspolitisch bedingt und damit vorübergehend gewesen seien. Durch Engpässe kann es, wie gezeigt, zu Preissteigerungen kommen. Für längerfristig orientierte Notenbanken besteht aber keine Notwendigkeit, auf vorübergehende Preissteigerungen zu reagieren.
Darüber hinaus sind in einzelnen Bereichen die deutlichen Preissteigerungen im heurigen Jahr durch Sondereffekte (zum Beispiel das Ende der Mehrwertsteuerermäßigung in Deutschland) oder durch Basiseffekte in Bezug auf extrem niedrige Preise im Vorjahr zu erklären. Dies gilt speziell für den - für die Inflationsentwicklung wichtigen - Ölpreis. Hier gab es krisenbedingt im Vorjahr extrem niedrige Preise. Die enormen Preissteigerungen im heurigen Jahr stellen damit nur eine Rückkehr zu einem "normalen" Preisniveau dar. Das heißt, es ist zu unterscheiden zwischen Veränderung und Niveau der Güterpreise. Ebenso wird der Zusammenhang zwischen Geldmenge und Preisentwicklung in einer modernen globalisierten Wirtschaftswelt von einer Fülle anderer externer Faktoren überdeckt sein.
Fed ist bereit, "Wirtschaft heißlaufen zu lassen"
Von besonderer Bedeutung ist aber eine grundlegend neue Entwicklung in der volkswirtschaftlichen Perspektive. Eine Vielzahl empirischer Studien zeigt, dass das Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft wesentlich flexibler ist als bisher angenommen. Speziell ist ein erheblicher Teil der bisher als "strukturell", also konjunkturunabhängig, gesehenen Arbeitslosigkeit tatsächlich eben doch konjunkturbedingt. Ebenso ist das Arbeitskräftepotenzial durch Nicht-Berücksichtigung der "versteckten Arbeitslosigkeit" unterschätzt worden.
Aus unbegründeter Angst vor inflationären Entwicklungen sind die Finanz- und die Geldpolitik zu restriktiv gewesen. Und auch wenn es zu einer leichten Erhöhung der Inflationsraten kommen sollte, ist die US-Wirtschaftspolitik nun bereit, wie es der Vorsitzende der US-Notenbank ausdrückte, "die Wirtschaft heißlaufen zu lassen". Durch den entsprechenden massiven Nachfragedruck soll es auch bisher benachteiligten Bevölkerungsgruppen und Regionen erleichtert werden, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Damit verbunden sind wohl auch politische Aspekte. Die jetzige US-Regierung geht davon aus, dass die Wirtschaftspolitik schon unter dem Einfluss der Berater von Ex-Präsident Barack Obama zu restriktiv war, was zum Entstehen jener frustrierten Bevölkerungsgruppen beitrug, auf die sich sein Nachfolger Donald Trump dann in starkem Maße stützen konnte. Konkret bedeutet das eine weiterhin stark expansive Fiskalpolitik unter Hinnahme beachtlicher Budgetdefizite. Und es bedeutet auch eine expansive Geldpolitik, die bereit ist, in Form der Strategie des "inflation averaging" das vergangene Unterschreiten des Preisstabilitätszieles von 2 Prozent durch Zulassen eines künftigen Überschreitens zu kompensieren.
Die Politik der USA ist selbstverständlich auch von Bedeutung für Europa. Allerdings besteht in Europa durch den deutlich besser ausgebauten Sozialstaat und speziell durch Maßnahmen der - in den USA nicht existierenden - "aktiven Arbeitsmarktpolitik" eine geringere Notwendigkeit, die Wirtschaft "heißlaufen" zu lassen, um Arbeitsmarktprobleme benachteiligter Gruppen zu erleichtern.
Andererseits hat sich die durch die Pandemie verursachte Wirtschaftskrise in Europa deutlich stärker ausgewirkt als in den USA, was auch zu einem stärkeren Rückgang der Inflationsraten geführt hat. So ist die Inflationsrate im Euroraum seit 2007 um insgesamt 10 Prozentpunkte unter der Preisstabilitätsgrenze von 2 Prozent geblieben. Auch die aktuellen Prognosen der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) gehen davon aus, dass es nach einer leichten Erhöhung 2021 in den Folgejahren wieder zu vergleichsweise niedrigen Inflationsraten kommen wird (Inflationsraten 2022: Eurozone 1,5 Prozent, Österreich 1,8 Prozent).
Bei "Normalisierung" der EZB-Politik ist Vorsicht angesagt
Insgesamt ist in Bezug auf Inflationsentwicklungen sehr deutlich zwischen der kurzen, der mittleren und der langen Sicht zu unterscheiden. Kurzfristig, also über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren, ist nach Auslaufen der Sondereffekte wieder mit einem Rückgang der Inflation in Richtung des Stabilitätszieles der Notenbanken zu rechnen. Mittelfristig, also für einen Zeitraum von etwa zwei bis fünf Jahren, kann speziell in den USA die Gefahr einer Überauslastung der Ressourcen auftreten. Die US-Notenbank beginnt demnach bereits mit Überlegungen einer vorsichtigen Einbremsung ihrer expansiven Geldpolitik. Wahrscheinlich wird sie heuer im August beim großen Notenbankertreffen im idyllischen Jackson Hole weitere Hinweise in diese Richtung geben.
Für den Euroraum ist die strategische Perspektive schwieriger, da ja hier der einheitlichen Geldpolitik keine einheitliche Finanzpolitik gegenübersteht. Je rascher die einzelnen Staaten eine Politik der Budgetkonsolidierung verfolgen, umso vorsichtiger muss die EZB im Interesse der wirtschaftlichen Stabilität der Eurozone bei einer "Normalisierung" ihrer Politik vorgehen. Die tendenziell niedrige Inflationsentwicklung lässt ihr hier jedenfalls Spielraum.
Hinsichtlich langfristiger Inflationsentwicklung gibt es, wie gezeigt, eine Vielzahl von - einander oft widersprechenden - Perspektiven. Für bestimmte Zeiträume etwas höhere Inflationsraten wären freilich keine neue Konstellation, selbst für "normale Zeiten" der europäischen Wirtschaftsgeschichte. So kam es etwa durch angebotsseitige Schocks wie zum Beispiel die Ölkrise zeitweise zu heftigen Inflationsausschlägen, vielfach mit längerfristiger Wirkung.
Selbst für die tonangebende D-Mark betrug in der Zeit ihres Bestehens - 1950 bis 1998 - die durchschnittliche jährliche Preisteigerungsrate 2,8 Prozent, auch in Österreich wechselten Phasen von höheren und niedrigeren Inflationsraten. Bei höheren Inflationsraten gibt es zweifellos Aktions- und Anpassungsbedarf seitens der Notenbanken, der Politik und der Privaten. Was jedenfalls in politisch stabilen, "normalen" Zeiten auszuschließen ist, ist ein Umschlagen "normaler", wirtschaftspolitisch kontrollierbarer Preissteigerungen in eine "galoppierende" Hyperinflation, wie sie stets als direkte und indirekte Folge kriegerischer Entwicklungen auftritt.•