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Wenn die Quecksilbersäule über 30 Grad steigt und die Sonne vom Himmel brennt, denkt kaum jemand an die nass-kalte Grippezeit, die jedes Jahr im Herbst beginnt. Im niederländischen Weesp und Olst ist das ganz anders: Auf Hochtouren beginnt dort bereits im August die Produktion des Grippeimpfstoffes "Influvac", der u. a. auch die Österreicher vor den oft gefährlichen Viren schützen wird.
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"Die Herstellung des Influenza-Impfstoffes ist jedes Jahr ein Lauf gegen die Zeit", sagt Ronald Kombier, Direktor der Produktionsentwicklung bei Solvay. Denn die Virusstämme, die für die Grippewelle erwartet werden, sind nicht jedes Jahr gleich. Im Februar trifft die WHO zusammen und gibt eine Empfehlung heraus, welche Virusstämme zu erwarten sind, und dann legen die Pharmahersteller los. "Jede Saison stehen wir vor der Tatsache, dass das Virus neue Eigenschaften und Merkmale hat", so Kombier. Das heißt: Binnen sechs Monaten muss ein neuer Impfstoff entwickelt, produziert und registriert werden.
Doch es ändert sich nicht nur das jeweilige Serum von Jahr zu Jahr, auch die Produktionsart unterliegt manchmal einer Modifikation. "Es ist wie eine schnelle Fahrt auf der Autobahn. Wir haben für die Produktion von 'Influvac' von März bis August Zeit. Normalerweise liegt die Herstellungszeit von Medikamenten bei fünf bis sechs Jahren", sagt Kombier. Die restlichen sechs Monate wird aber nicht pausiert: "Da produzieren wir für die südliche Hemisphäre."
Betritt man die Produktionsstätte der belgischen Pharmafirma Solvay in Weest in Holland, erinnern die Räumlichkeiten eher an eine Fabrik für Ostereier. Der Influenza-Impfstoff "Influvac" wird aus streng selektierten Virusstämmen hergestellt, der in der Allantoisflüssigkeit von tausenden bebrüteten Hühnereiern rund um die Uhr gezüchtet und inaktiviert wird.
Zwei Milliliter der Virusstämme werden durch Kanülen in die Eier injiziert, wo sie bei einer Wärme zwischen 33 und 35 Grad Celsius kultiviert werden und sich vermehren. Nach einigen Tagen werden die Viren "geerntet", abgetötet und gereinigt. Aus den etwa 100.000 Eiern, in die täglich der Influenzastamm platziert wird, werden etwa vier Liter konzentriertes Serum gewonnen. Geht ein Ei bei diesem Vorgang kaputt, wird es zu biologischem Abfall und verbrannt. "In einem Kübel voll mit kaputten Eiern herrscht nicht mehr Gefahr als in einem vollbesetzten Bus", meint ein Solvay-Mitarbeiter.
Für die Herstellung in den Eiern werden fast ausschließlich die gereinigten Oberflächenantigene Hämagglutinin und Neuraminidase verwendet. Diese Bestandteile der Virushülle, die aus den von der WHO empfohlenen Influenzastämmen gewonnen wird, sollen das Abwehrsystem des menschlichen Körper anregen.
Fast 60 Millionen Spritzen mit dem Grippe-Impfstoff "Influvac" werden jedes Jahr in Europa verteilt. Befüllt werden sie in der Produktionsstätte der Pharmafirma Solvay in Olst. Herrschen schon bei der Produktion in Weest, wo aus den bebrüteten Hühnereiern das Serum gewonnen wird, strengste Vorkehrungen bei Sauberkeit und Hygiene, gleicht ein Mitarbeiter in Olst mit seiner Ausrüstung einem Außerirdischen. "Die Kleidung, das Haarnetz, der Mundschutz, die Schutzbrille und die Gummihandschuhe der 'Befüller' müssen alle zwei Stunden gewechselt werden", so ein Mitarbeiter.
Nachdem die Spritzen gefüllt sind, werden sie einer genauen Prüfung unterzogen. Eine Maschine kontrolliert unter einem speziellen Licht die befüllten Ampullen auf Fehler und wirft im Falle des Falles die kaputten aus. Diese werden noch einmal von menschlichen Augen einer Gegenprobe unterzogen. "Im Endeffekt haben wir rund zwei Prozent Ausschuss", so ein Mitarbeiter.
Danach werden die Spritzen in mehreren Chargen mit Etiketten und Beipackzettel in der jeweiligen Sprache verpackt. "Der Beipackzettel muss auch auf Grund der Virenstämme, die sich jedes Jahr ändern, erneuert werden. Das ist wie eine jährliche Neuanmeldung", erklärte der Mitarbeiter.
Für die kommende Saison hat die WHO in Europa die Stämme A/New Caledonia/20/99(H1N1), A/Moscow/10/99(H3N2) und B/Sichuan/379/99 festgelegt. Die WHO hat die Befürchtung geäußert, dass Europa heuer eine Pandemie, also eine weltweite Erkrankungswelle durch ein neues Virus, überrollen könnte. Laut der Firma Solvay rechnen deutsche Experten bei dieser Welle mit 120.000 Todesfälle in Deutschland. Umgelegt auf Österreich wären das 12.000 Tote - das wären die Einwohner einer Stadt in der Größe von Tulln und um 9.500 Sterbefälle mehr als sonst.
Während der größten Influenza-Pandemie, der "Spanische Grippe" in den Jahren 1918/19, starben innerhalb einer ersten Welle von drei Monaten genauso viel oder mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg, der in einem Zeitraum von 4,5 Jahren 7,4 Millionen Menschen dahinraffte.
In Österreich erkranken während der alljährlichen Influenza etwa 400.000 Personen. Ganz besonders sinnvoll und empfohlen ist eine Grippeimpfung für Ärzte und medizinisches Personal, bei chronischen Atemwegs- und Lungenerkrankungen, bei Herz-Kreislauferkrankungen, bei chronischen Nierenleiden, Stoffwechselstörungen wie etwa Diabetes, bei Immundefekten und besonders für Menschen über 60 Jahre. Die Durchimpfungsrate lag im vergangenen Jahr in Österreich mit 10,7 Prozent im europäischen Vergleich im untersten Drittel.