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Immer öfter werden in der Türkei auch ausländische Journalisten verhaftet - nun traf es Mesale Tolu.
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Istanbul/Nikosia. Die Anti-Terror-Polizisten kamen wie immer zwischen vier und fünf Uhr in der Früh. Sie traten die Tür des Apartments ein und verwüsteten die Wohnung der deutschen Übersetzerin Mesale Tolu und ihres zweieinhalbjährigen Sohnes. Der Vorfall ereignete sich bereits am 30. April in Istanbul, wurde aber erst jetzt bekannt.
Die 33-jährige Frau sei brutal auf den Boden geworfen worden, habe weder einen Anwalt noch Bekannte anrufen dürfen und musste ihr Kind bei wildfremden Nachbarn abgeben, berichten ihre Verwandten - der herrschende Ausnahmezustand setzt rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft. Seither sitzt Mesale Tolu, deutsche Journalistin mit türkischem Migrationshintergrund, geboren und aufgewachsen in Ulm, im überfüllten Frauengefängnis von Istanbul-Bakirköy ein.
Was Mesale Toru vorgeworfen wird, ist geheim; festgenommen wurde sie unter dem türkischen Allerweltsvorwurf der "Propaganda für eine terroristische Vereinigung". Die deutschen Behörden wurden weder von Tolus Festnahme noch von der Entscheidung über die am 6. Mai verhängte Untersuchungshaft informiert - ein Skandal, der die angespannten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei weiter belasten wird. Dieses Vorgehen sei "bedauerlich" und völkerrechtswidrig, konstatierte am Freitag der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer. Die Bundesregierung habe erst aus anderen Quellen von dem Fall erfahren. Auch sei bisher kein Kontakt zu der Inhaftierten ermöglicht worden. Immerhin, das Kind sei jetzt in guten Händen bei der Familie.
Mesale Tolu hat nach Angaben ihrer Geschwister in Frankfurt Lehramt studiert und besitzt seit 2007 einzig die deutsche Staatsangehörigkeit, nachdem sie die türkische abgelegt hatte. Sie lebe nicht ständig in der Türkei, sondern habe ihren festen Wohnsitz in Neu-Ulm (Bayern), sagte ihr Bruder Hüseyin Tolu dem Regionalsender Radio 7. Tolus Rechtsanwältin sei in Istanbul bisher die Akteneinsicht verweigert worden. Die Familie fordert ihre Überstellung in die Bundesrepublik, auch falls sie eine Straftat begangen haben sollte.
Daran aber gibt es erhebliche Zweifel, nicht nur wegen der verdächtigen staatlichen Geheimhaltung. Mesale Tolu ist offenbar eine linke Idealistin, die sich vor allem für Frauenthemen und die Kurdenfrage interessiert. In Deutschland hatte sie Kontakt mit kommunistischen Gruppen, die in der Türkei verboten sind, in der Türkei selbst arbeitete sie für die prokurdische Nachrichtenagentur Etha und den linken Sender Özgür Radyo (Freiheitsradio), die beide im vergangenen Jahr geschlossen wurden und mit der legalen sozialistischen Partei ESP verbunden sind.
Wie das türkische Nachrichtenportal Diken berichtete, wurde Mesale Tolu im Vorfeld der Proteste zum 1. Mai bei einer Razzia gegen 16 Personen, die für die Agentur und linke politische Organisationen tätig seien, festgenommen. Darunter waren auch Tolus Ehemann Suat Corlu, ebenfalls Journalist, und der Etha-REporter Ulas Sezgin, wie die unabhängige Istanbuler Journalistenplattform P24 meldete.
Am Freitag traf es Oguz Güven, den Online-Chefredakteur der Zeitung "Cumhüriyet", eines der letzten Oppositionsblätter in der Türkei, von dem bereits zwölf Redakteure seit Monaten wegen teils absurder Vorwürfe hinter Gittern sind. P24 zufolge sind damit aktuell 165 Journalisten in der Türkei inhaftiert, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Rund 160 Medienhäuser wurden seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 geschlossen, 2500 Medienschaffende verloren ihren Job.
Bericht über Beerdigung
Mit Mesale Tolu und dem seit drei Monaten inhaftierten Korrespondenten der Zeitung "Die Welt", Deniz Yücel, sitzen nun schon zwei deutsche Journalisten wegen angeblicher "Terrorpropaganda" in türkischer Untersuchungshaft. Tolu wird nach Informationen der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) vor allem der Besuch einer Beerdigung von zwei bei einem Polizeieinsatz erschossenen Kommunisten 2015 in Istanbul vorgeworfen. "Doch sie war dort als Berichterstatterin für Etha", sagte der deutsche ROG-Chef Christian Mihr zur "Wiener Zeitung", "man wirft ihr also ihre Arbeit vor." Tolu habe laut seinen Quellen eine offizielle Presseakkreditierung der Regierung besessen. Seine Folgerung: "Man muss deutschen Journalisten mit Migrationshintergrund dringend davon abraten, in der Türkei zu arbeiten."
Der Druck auf ausländische Journalisten nimmt zu. Seit Anfang der Woche sitzt der französische Fotoreporter Mathias Depardon im südostanatolischen Gaziantep im Polizeigewahrsam. Ihm wird laut ROG ebenfalls Terrorpropaganda vorgeworfen. Ende April wurde der italienische Journalist Gabriele del Grande nach zwei Wochen Polizeigewahrsam abgeschoben. Er hatte an der türkisch-syrischen Grenze über die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) recherchiert.