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Innen offen, außen zu: Europas Grenzen in der Pandemie

Von Georg Vobruba

Gastkommentare
Georg Vobruba ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig.
© privat

Am Druck durch Migrationskrise und Pandemie wäre das Schengen-Regime ohne Ausnahmeregeln zerbrochen.


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Bald nach dem Beginn der Corona-Pandemie gab es Grenzkontrollen, erst um die Mobilität generell zu bremsen, dann um sie selektiv wieder zu ermöglichen. Es folgten Mutmaßungen über die Folgen: anschwellender National-Egoismus; Ende der Personenfreizügigkeit - scheitert Schengen, scheitert Europa; echte Sorge bei den einen, klammheimliche Freude bei den anderen.

Die Personenfreizügigkeit im Schengen-Raum kann ausgesetzt werden, wenn "die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht" ist. Erste Corona-bedingte Grenzkontrollen wurden der EU-Kommission am 31. Oktober 2019 von Frankreich gemeldet. Seither gab es überwiegend Corona-begründet mehr als 200 Meldungen. Es gibt die Tendenz, Ausnahmeregeln im Schengen-Kodex als Inkonsequenz und ihre Inanspruchnahme als Rückschläge im Integrationsprozess anzusehen. Aber trifft das wirklich zu? Migrationskrise und Pandemie haben einen Druck entfaltet, an dem das Schengen-Regime ohne Ausnahmeregeln zerbrochen wäre.

Europas Mobilitätspotenzial ist gewaltig.

Von rund 400 Millionen Reisen in Europa 2016 führten rund 40 Prozent ins Ausland, die meisten (etwa 80 Prozent) innerhalb Europas. Es ist das am dichtesten integrierte Mobilitätsnetzwerk der Welt. Zwar hat sich die Mobilität im Corona-Jahr 2020 mehr als halbiert, sie kam aber keinesfalls zum Erliegen. Heute werden transnationale Reisebewegungen als eine Art Gewohnheitsrecht gesehen und Einschränkungen auf Dauer kaum hingenommen. Kontrollabbau im Inneren begründet strikte Kontrollen an der EU-Außengrenze. Die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen dagegen führt keineswegs zu weniger EU-Außengrenzkontrollen. Das Papier der EU-Kommission zur Bestärkung und Weiterentwicklung des Schengen-Systems fügt sich dieser Logik. Es konzentriert sich auf die Bekämpfung von "irregular migration" und Kooperation mit der äußeren EU-Peripherie im Sinne vorverlagerter Migrationsabwehr. Als Motiv für technische Aufrüstung der Gefahrenabwehr an der EU-Außengrenze und im Schengen-Raum wird Ansteckung zwar nicht erwähnt, ist aber gemeint. Es ist absehbar, dass der Impfrückstand außerhalb der nördlichen Hemisphäre zur zynischen, aber wirksamen Legitimation für EU-Grenzschließungen nach außen wird.

Die EU bleibt in globale Mobilitätsprobleme verstrickt. Das Elend der Menschen an den Außengrenzen (Belarus/ Polen, Griechenland, Türkei) zeigt, dass die Politik hier nicht auf der Höhe der Zeit ist. Programmatisch muss geklärt werden, wer unter welchen Bedingungen jenseits des Asylrechts mit Aufnahme in die EU rechnen kann. Geopolitisch bedarf es fairer Abkommen mit Ländern der äußeren Peripherie Europas, um Migrationsströme zu absorbieren. Technisch-organisatorisch fehlen Instrumente, die Aufnahmekriterien so durchzusetzen, dass Chancen und Grenzen der Migration individuell vorhersehbar werden. Dann könnten sich Migrationsentscheidungen auf Erwartungssicherheit stützen und wären nicht länger eine lebensgefährliche Lotterie.

Eine Langfassung des Textes ist als Policy Brief der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) erschienen: https://www.oegfe.at/policy-briefs/