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Büchereien werden von fast jedem zehnten Wiener genutzt - und haben sich von einer Entlehneinrichtung zu einem Ort der Begegnung gewandelt.
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Der Arbeitstag von Manuel Fiedler beginnt jeden Tag um 11 Uhr. Nicht früher und nicht später, denn genau dann öffnet die Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz. Hier, im hinteren Teil des Gebäudes, wo es schön ruhig ist, schreibt er seit einem halben Jahr an seiner Abschlussarbeit in Soziologie. Das könnte er auch zu Hause tun, doch da ist die Ablenkung zu groß, schon allein durch die Verlockungen des Kühlschranks.<p>Fiedler genießt die anregende Atmosphäre in der Bibliothek. Umgeben ist er von Büchern und anderen Studierenden, außerdem hat er freien Internet-Zugang. Und: Hier hat er es angenehm warm, in seiner Wohnung müsste er heizen, diese Kosten spart er sich.<p>Fiedler ist einer von insgesamt rund 173.000 Nutzern, die bei den Wiener Büchereien (per Büchereikarte) eingeschrieben sind. Nicht alle nutzen die Bibliothek als Studienort, für die meisten ist ausschlaggebend, dass sie hier Bücher und andere Medien wie CDs kostenlos ausleihen können. Das Angebot wird also von fast jedem zehnten Wiener Einwohner in Anspruch genommen. Eine stolze Zahl, die zeigt, dass diese Kultureinrichtung fest eta-bliert ist.<p>Woher kommt dieser Zuspruch? Literatur zählt doch eher zu den Freuden einer Minderheit. Und sind die Menschen mit Smartphone und Tablet-Computer mittlerweile nicht genug ausgelastet? Wie erklärt sich die stattliche Zahl von immerhin sechs Millionen Entlehnungen, welche die Wiener Büchereien pro Jahr verzeichnen?<p>
Ort der Stille
<p>Markus Feigl, der seit knapp sieben Jahren den Wiener Büchereien vorsteht, hat sein Büro im Hauptgebäude - und von seinem Schreibtisch einen guten Blick auf den Wiener Gürtel, Wiens meistbefahrene Autostraße. Just inmitten des größten Großstadtlärms ist dieser exemplarische Ort der Stille, des Lernens und der inneren Einkehr 2003 neu errichtet worden.<p>Für den Erfolg der Wiener Büchereien macht Feigl unter anderem einen ganz pragmatischen Grund verantwortlich: die neue Zentralmatura, denn diese beinhaltet auch eine vorwissenschaftliche Arbeit. Hilfe finden die Maturanten Einführungen zur Literaturrecherche und zum vorwissenschaftlichen Arbeiten, die von den Wiener Büchereien kostenlos angeboten werden. "In der Blüte der Pubertät haben Jugendliche andere Dinge im Kopf als Bücher. Doch bei uns finden sie, was sie für die Schule brauchen", sagt Feigl.

<p>Literatur im eigentlichen Sinne, also der schöne Roman, das sogenannte gute Buch - das werde, so der bibliothekarische Leiter, von den Nutzern im Allgemeinen weniger nachgefragt, von Lyrik ganz zu schweigen. Vor allem Sachbücher und Ratgeber werden ausgeliehen. "Je nach Lebensabschnitt ändert sich das Interesse: Jungfamilien leihen gerne Ratgeber aus, die darüber informieren, wie Wohnungen kindergerecht eingerichtet werden können. Um die 40 steht der Beruf im Vordergrund, da bleibt keine Zeit zum Lesen. In der Pension steigt wieder das Interesse an Büchern", sagt Feigl.<p>Ein zuverlässiger "Renner" seien Kochbücher, wobei aktuell ein vermehrtes Interesse an veganer Kost festzustellen sei. Die Bibliothek ist also auch in dieser Hinsicht ein Spiegel des Zeitgeistes.<p>Über 300 Mitarbeiter beschäftigen die Wiener Büchereien. Keine Sammlungs- oder Aufbewahrungspflichten müssen erfüllt werden, und so richtet sich der Bestand in erster Linie danach, was die Menschen wünschen. Allerdings nicht nur, Feigl ist es darüber hinaus wichtig, dass die Zweigstellen gerade in Bezirken mit einem hohen Anteil an Mi-granten auch Bücher in deren Erstsprache anbieten. Dies ist etwa im 16. Bezirk der Fall, in der Bücherei-Zweigstelle Sandleiten.<p>
"Arbeiterbibliothek"
<p>Diese Zweigstelle ist in dem gleichnamigen Gemeindebau untergebracht. Vor der Bibliothek steht ein Brunnen mit einem Bücher tragenden Putto. Das Buch als Schlüssel für den Weg aus der Unmündigkeit. Im Inneren der Bibliothek befinden sich Wandgemälde von Otto Rudolf Schwarz. Beide künstlerischen Arbeiten sind ein Erbe aus jener Zeit, als hier noch eine "Arbeiterbibliothek" untergebracht war.<p>In den 1920er Jahren gingen die roten Stadtväter nicht nur daran, günstige Wohnungen für die Arbeiterschaft zu errichten, sondern verfolgten auch das Ziel, mit in die Wohnanlagen integrierten Kultureinrichtungen einen Beitrag zu deren Bildung und Emanzipation zu leisten.<p>Diese "Arbeiterbibliotheken" waren ebenso wie die Ende des 19. Jahrhunderts von christlich-sozialen Kreisen initiierten "Bücherhallen" ideelle und vielfach auch räumliche Vorläufer der Wiener Büchereien, die seit 1945 in kommunaler Verwaltung sind.<p>Eine entscheidende Änderung erfolgte - in Sandleiten ebenso wie in anderen Zweigstellen - in den 1970er Jahren: weg von der Theken- hin zur Freihandbibliothek. Die Idee kam aus den USA. Fortan mussten die Nutzer ihre Wünsche nicht länger einer Bibliothekarin (seltener: einem Bibliothekar) vorbringen, die sodann die betreffenden Bücher aus dem Magazin holten, sondern sie konnten ihre Auswahl selbst treffen.<p>Bis auf die Innenstadt und den achten Bezirk unterhalten die städtischen Büchereien in allen Bezirken Zweigstellen, in manchen auch mehrere, insgesamt gibt es 39 Standorte. Man kann also von einer fast lückenlosen Versorgung sprechen.<p>Im Unterschied zur Hauptbücherei ist der Betrieb in den Zweigstellen familiärer. Doris Wanner, die Leiterin der Sandleitner Zweigstelle, kennt viele ihrer Stammkunden und deren Vorlieben - und kann ihnen so immer wieder Lesetipps geben. Freilich ist ihr Angebot im Vergleich zur Hauptbücherei auch bescheidener und überschaubarer. Während sie quasi von allem etwas hat und die Breite abdeckt, ist der Bestand in der Zentrale in einzelne Colleges unterteilt, mit Spezialisten für die jeweiligen Fachgebiete.<p>
Prinzip Aussortieren
<p>Zwei Millionen Euro haben die Wiener Büchereien im Jahr für Neuankäufe zur Verfügung. Dass die Regale unter der Last der Medien einmal zusammenbrechen könnten - diese Angst braucht man nicht zu haben. Denn ein Grundsatz lautet, dass ebenso viele Medien aussortiert wie jeweils neu angeschafft werden. In erster Linie trifft es Sachbücher, die inzwischen veraltet sind, aber auch jene Medien, die laut Statistik gar nicht entlehnt werden. Aussortieren heißt nicht gleich auf den Müll: Ein Teil kommt zu gemeinnützigen Häusern, ein anderer in Schachteln, wo sie in Zweigstellen zur freien Entnahme aufliegen.<p>Etwa 44 Prozent des rund 400.000 Medien umfassenden Bestands der Wiener Hauptbücherei sind regelmäßig ausgeliehen. Diese Zahl nennt Christian Jahl, der Leiter der Hauptbücherei. Das heißt, dass der gewöhnliche Besucher immer nur rund die Hälfte des Gesamtangebots zu Gesicht bekommt. Jahl nennt eine weitere Zahl: 30 Prozent der Besucher kommen, ohne etwas auszuleihen.<p>Ist das beunruhigend? Keineswegs, sondern nur ein Indiz dafür, dass sich auch diese Institu- tion im Wandel befindet. Weg von der klassischen Buchausleihstelle - hin zu einem Ort der Begegnung. Als das neue Hauptgebäude vor mehr als zehn Jahren eröffnet wurde, galt es noch als fortschrittlicher Akt, auch CDs, DVDs und Blue-Ray-Discs in die Regale zu stellen. Inzwischen, in Zeiten des sogenannten Streamens, werden all diese Speichermedien deutlich weniger nachgefragt. Dafür gibt es nun etwa "Deutsch um 5", einen Konversationskurs, der in Zusammenarbeit mit dem Sprachenzentrum der Universität Wien angeboten wird. Hinzu kommen etliche Veranstaltungen und Vorträge.<p>
Technologie von morgen
<p>Die städtischen Büchereien möchten ein Ort der Bücher sein - und bleiben, aber auch ein Ort der gesellschaftlichen Diskurse, jedenfalls wenn es nach Jahl geht. Erst zuletzt hat er etwa Workshops und Vorträge zum Thema "3-D-Drucker" organisiert. Die Technologie von morgen soll schon heute diskutiert werden. Und welcher Raum wäre dafür geeigneter als die Bücherei, jener Ort des Wissens, zu dem alle Menschen freien Zugang haben?<p>In Anlehnung an den amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg, der sich vor allem mit dem Leben in modernen Großstädten befasst, spricht Jahl gerne vom "dritten Ort", wo, jenseits von Wohn- und Arbeitsplatz, verschiedenste Menschen auf Augenhöhe zusammenkommen können.<p>Zwischen 2500 und 3000 Leute besuchen täglich die Hauptbücherei. Darunter auch Obdachlose, die im Winter einen warmen Ort suchen. Dürfen sie auch, das Haus steht allen offen. Jeder kann kommen, betonen Jahl und Feigl, solange er den anderen bei der Benutzung der Bibliothek nicht stört. Stören kann er allerdings dann, wenn er sich schon lange nicht mehr gewaschen hat und durch unangenehmen Geruch auffällt. In diesem Fall verweisen die Büchereien ihn an entsprechende Sozialeinrichtungen, mit denen sie eng zusammenarbeiten.<p>Wie sieht die Bibliothek von morgen aus? Sie wird mehr Arbeitsorte für kleine Gruppen anbieten. Und sie soll auch am Sonntag offen haben, also dann, wenn die ganze Familie Zeit hat. An Plänen für eine entsprechende Umsetzung arbeiten Feigl und Jahl bereits. Vorbild sind öffentliche Büchereien in Dänemark, die zeigen, dass Öffnungszeiten bis in die späten Abendstunden möglich sind, auch ohne anwesendes Aufsichtspersonal.
Wenzel Müller, geboren 1959 in Sindelfingen (D), lebt und arbeitet als Journalist, Sachbuchautor und Lehrer in Wien.