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Inspirationsverbot

Von Katharina Ernst

Gastkommentare
Katharina Ernst ist Schlagzeugerin und Bildende Künstlerin. Sie lebt in Berlin.
© Michael Breyer

Kunst kann nicht geliefert werden. Sie muss kommuniziert werden.


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Inspiration heißt so viel wie Einatmung. Einatmen soll man jetzt nur eingeschränkt, möglichst nicht in der Nähe von Personen, die nicht im selben Haushalt leben, oder nur mit Maske. Man könnte sich ja sonst anstecken. Dass Inspiration ansteckend sein kann, wissen alle, die häufig damit in Kontakt kommen – das passiert verstärkt im Kunstsektor. Anstecken ist auch der Sinn der Sache. Ich gehe in eine Ausstellung, eine Performance, ein Konzert und will ja, dass etwas Neues in mein System eindringt und Veränderungen bewirkt. Aber ich darf jetzt nicht.

Warum schafft die Kunst nicht, was in anderen Bereichen bravourös gemeistert wird? Wieso jammern Kunstschaffende immer noch über publikumslose Veranstaltungen und scheinen im Wartezimmer der Gesellschaft paralysiert, während innovative Start-ups, etwa Lieferdienste, aus dem Boden schießen und aus der Krise gar als Sieger hervorgehen?

Weil Kunst nicht geliefert werden kann. Sie muss kommuniziert werden. Transportmittel und Produkt sind in der Kunst untrennbar: Es ist unmöglich, ein Konzert daheim auf dem Sofa zu erleben. Aber natürlich kann man sich dort ein Video davon anschauen.

Stellen Sie sich vor, man hätte der Gastronomie gesagt, der direkte Kontakt zu den Speisen selbst sei jetzt leider nicht möglich. Vielleicht hätte sich die motivierte Gastronomin nach dem ersten Schock eine Kamera gekauft, ein Foto von einer Margherita auf eine frisch designte Website hochgeladen, ein Verfahren entwickelt, um den Geruch von geschmolzenem Käse synthetisch herzustellen und auf kleine Papierstreifen gesprüht zu verschicken, und dann nach Versand von E-Mail und Duftprobe den Kunden angerufen, um dessen Kaufbewegungen am Telefon unterstützend begleitet. Aber hätte dieser dann wirklich das Gefühl gehabt, eine Pizza zu essen? Wohl kaum.

So ähnlich ist das auch mit Online-Events. Ja, ein Teil des Geschehens kommt rüber: Das Bild dessen, was geschieht, wird transportiert. Es ist im Zeitalter der Digitalisierung ein weitverbreiteter Irrglaube, das digitale Bild einer Person, eines Konzerts oder eines Gemäldes sei ein adäquater Ersatz, wenn nicht gar der etwas angenehmere weil bequemere, zahmere, glattere oder farbenfrohere Zwilling des Originals.

Aber genauso, wie es unangebracht ist, auf Tinder Bilder von Personen nach links oder rechts zu wischen, ist es eine Lüge zu behaupten, eine Performance habe nichts damit zu tun, ob andere Leute im Raum sind oder nicht. Oder ebenso gut einer Instagram-Story der Tate Modern zu folgen, wie tatsächlich vor den Leinwänden zu stehen. In solchen Argumentationen wird die Sinneserfahrung und somit der Körper als solcher negiert – ein unübersehbares Paradoxon in Zeiten von Corona, wo scheinbar alle Bestrebungen gerade dem Schutz des Körpers gelten. Aber wir können den Körper nicht schützen, indem wir ihn negieren, zumindest nicht dauerhaft.

Selbstverständlich kann man auf Tinder den Partner fürs Leben finden oder von einem Online-Event euphorisiert werden. Im Kern ist das digitale Bild jedoch ein Surrogat, Astronautennahrung. Sie hilft eine Zeit lang zu überleben, aber sie ersetzt den Besuch im Lieblingsrestaurant nicht. Hoffentlich bleiben wir als Gesellschaft nicht langfristig mit der Frage des reinen Überlebens beschäftigt, sondern können uns schon bald wieder mit dem Leben in seiner Vielfalt auseinandersetzen, an neue Orte gelangen und einander gegenseitig inspirieren.