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Inszenierte Harmonie zum 60er

Von Andreas Landwehr

Politik

China: Soziale Spannungen als tickende Zeitbombe. | Präsident Hu warnt vor zivilem Aufbegehren. | Peking. (dpa) Am 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik plagt Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao vor allem die Sorge um die soziale Stabilität im Milliardenreich. Mit spektakulären Feiern wird morgen, Donnerstag, der Nationalstolz angefacht, der als Ersatz für die bankrotte kommunistische Ideologie dienen muss. Eine große Militärparade soll außerdem der Welt die wachsende Stärke der aufstrebenden Weltmacht demonstrieren. Gleichzeitig zeigt der Aufmarsch dem eigenen Volk, dass die Volksbefreiungsarmee voll hinter der "ruhmreichen Kommunistischen Partei" steht und mit harter Hand gegen jene im Land vorgehen wird, die gegen die Mächtigen aufbegehren.


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"Ohne Stabilität kann nichts erreicht werden - selbst das Erreichte geht verloren", wiederholt Hu Jintao gebetsmühlenartig, wann immer Unruhen ausbrechen. "Wir sollten den Konflikten zwischen den Menschen besondere Aufmerksamkeit schenken und sie angemessen lösen", lautet seine wohlmeinende Botschaft, die im Lande aber oft ungehört verhallt. Die sozialen Zwischenfälle nehmen zu, das Konfliktpotenzial wächst: Streitigkeiten über Landverkäufe, Zwangsumsiedlungen, unzureichende Entschädigungen, Ausbeutung in Fabriken, ausstehende Löhne nach Pleiten durch die Wirtschaftskrise oder ethnische Spannungen wie zuletzt in Tibet oder Xinjiang.

Die Einkommenskluft wird immer größer

Nach drei Jahrzehnten wirtschaftlicher Öffnung, die Deng Xiaoping eingeleitet hatte, sei die "Marktwirtschaft chinesischer Prägung" vor allem "von Funktionären kontrolliert", identifiziert der ehemalige Spitzenfunktionär Bao Tong, der dem 1989 gestürzten reformerischen Parteichef Zhao Ziyang gedient hatte und wegen Kritik an der damaligen blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung sieben Jahre Gefängnis ausgefasst hatte, ein Übel. Die Einkommenskluft werde immer größer. "Die Reichen werden immer reicher und die Armen bleiben arm." Die von Parteichef Hu Jintao beschworene "gesellschaftliche Harmonie" sei "sehr reizbar". "Sie kann jeden Moment in die Luft gehen."

Korrupte Funktionäre machen gemeinsame Sache mit Investoren und Fabrikbesitzern. Statt auf der Seite der schwachen Bauern, Arbeiter oder Stadtbewohner zu stehen, die meist gegen ganz konkretes Unrecht protestieren, verteidigen sie die "wirtschaftliche Entwicklung" oder "soziale Ordnung". Wenn dann noch Schlägerbanden gegen Aufmüpfige mobilisiert werden, kommt es leicht zur Eskalation. Wegen der wachsenden Zahl der Proteste wurden heuer im August den paramilitärischen Polizeikräften (Wujing) mit einem eigenen Gesetz mehr Befugnisse eingeräumt, damit sie "notwendige Maßnahmen" gegen etwaige Unruhen ergreifen können.

Dabei wäre mehr Rechtsstaatlichkeit vonnöten, damit es gar nicht erst zu Protesten kommt, argumentieren chinesische Akademiker. Die Justiz müsse sich vom politischen Einfluss befreien, damit Bürger ihre Rechte einklagen könnten.

Demokratische Öffnung statt Eigenlob

Doch Gewaltenteilung oder politische Reformen stehen am 60. Jahrestag nicht auf dem Programm. Statt zu feiern, so sagt Kritiker Bao Tong, würde ein "wahrer Patriot" am Jahrestag über das Schicksal des Landes nachdenken. "Was mich besonders traurig macht, ist die Tatsache, dass viele von denen, die über diese Zukunftsfragen nachdenken, festgenommen wurden."

Jene, die etwas verändern wollten, dürfe die Partei nicht zu "Feinden des Volkes" erklären. "Wenn wir aufhören, mit uns selber zu prahlen, und mit Selbstkritik beginnen, dann gibt es noch Hoffnung für die Partei und China." Als erstes müssten abweichende Meinungen zugelassen werden. "Jemand muss mindestens einen Spiegel haben, in dem er sehen kann, ob sein Gesicht dreckig oder sauber ist", sagt Bao Tong. Die Partei müsse dafür Wettbewerber haben. "Selbstkritik braucht Demokratie und Demokratie braucht Wahlen."

Wo man bei den Reformen konkret ansetze, sei dabei gleichgültig, fügt Bao Tong hinzu. "Es kann mit Wahlen losgehen - oder mit Pressefreiheit." Warnungen vor einer übereilten Demokratisierung wie in der Sowjetunion lässt Bao nicht gelten. "Wenn es zu schnell ist, können wir den Wandel verlangsamen", sagte der 77-Jährige. "Das Problem ist, dass es überhaupt keine Veränderung gibt."