Nach 60 Jahren treffen sich hunderte Familien in Nordkorea wieder. Einige werden den Tag als traurig in Erinnerung behalten.
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Seoul. Wer das Protokoll der am Dientag begonnenen Familienzusammenführungen liest, kommt nicht drum herum, auch das Komische an diesem sonst so tragischen Kapitel der innerkoreanischen Geschichte zu sehen: Um 10.50 Uhr werden die Anwesenden beim Grenzübergang gebeten, ihre Uhren um eine halbe Stunde zurückzustellen - auf die offizielle Pjöngjanger Zeitzone, die Machthaber Kim Jong-un heuer ausgerufen hat. Gegen 12.25 Uhr erfolgt wie jedes Jahr das obligatorische Gedränge der südkoreanischen Fernsehreporter, die Grenzbeamte aus Nordkorea hitzig auffordern, einen Zahn zuzulegen. Es ist die passende Einstimmung für die kommenden Stunden und Tage, die sich für Teilnehmer der Familienzusammenführungen wohl wie eine große Inszenierung anfühlen werden.
Vieraugengespräche limitiert
Mehrere Millionen Familien wurden während des Koreakriegs 1950 bis 1953 auf der ostasiatischen Halbinsel entzweit. Noch immer sind mehr als 66.000 von ihnen beim südkoreanischen Roten Kreuz registriert. Ein willkürlicher Computer-Algorithmus hat daraus 100 Familien ausgewählt, die nun in einem nordkoreanischen Ferienressort im Diamantengebirge drei Tage lang ihr Wiedersehen feiern dürfen. Die meisten sind in Rollstühlen oder auf Gehstöcken angereist. Jedes Jahr sterben rund 3600 Südkoreaner, ohne je ihre Verwandten wiedergesehen zu haben. Im Norden dürften aufgrund des mangelhaften Gesundheitssystems nur mehr wenige tausend Familienmitglieder am Leben sein.
Die Auflagen für die Treffen sind überaus streng: Politische Fragen sind untersagt, ebenso Diskussionen über den Lebensstandard der Familien im Norden. Überhaupt sollen die Bezeichnungen Nord- und Südkorea nach Möglichkeit vermieden - und stattdessen Süd- und Nordseite verwendet werden. "Falls Ihre Verwandten Propagandalieder singen oder politische Äußerungen von sich geben, halten Sie sie bitte zurück und wechseln das Thema", heißt es in der ausgehändigten Broschüre des Roten Kreuzes. Wegen der geltenden UN-Sanktionen dürfen nur Geschenke unter einem Wert von 100 US-Dollar ausgetauscht werden. Die meisten Familien haben daher Hygieneartikel, Schokokekse oder Thermounterwäsche mitgebracht.
Laut ehemaligen Teilnehmern komme bei den Treffen ohnehin nur wenig Intimität auf: In einem Ballsaal werden die Senioren von Sicherheitsbeamten und Fernsehteams belagert, aus den Lautsprechern plärrt laute Volksmusik, ein Gespräch unter vier Augen ist nur für zwei Stunden erlaubt. Immer wieder erkennen Südkoreaner ihre Verwandten kaum wieder - auch, weil diese immer wieder wie auswendig gelernt ihren Führer Kim Jong-un preisen.
Shim Gu-seob hat sich gar nicht erst für eine staatliche Zusammenführung beworben, obwohl die Chancen für den 81-Jährigen mit den grau melierten Haaren nicht schlecht stünden: Als der damalige Schüler ins Gymnasium nach Seoul geschickt wurde, konnte er nicht ahnen, dass nur wenige Monate später ein Krieg ausbrechen würde - und er seine Mutter im Norden nie mehr wiedersehen sollte. Als einziges Zeugnis ist ihm ein altes Foto geblieben, das Shim wie einen Talisman bei sich trägt: Es zeigt die Mutter im traditionellen koreanischen Gewand, die ernst dreinschauenden Buben in Sonntagshemden und die Schwester mit einem üppig gefüllten Blumenkorb. "Wenn der Staat nichts mehr für uns tun kann, muss man das eben selbst in die Hand nehmen", sagt der pensionierte Beamte.
Über einen chinesischen Mittelsmann konnte er 1992 Briefkontakt zu seinem drei Jahre jüngeren Bruder aufnehmen, zwei Jahre später folgte, mithilfe von Schleppern, ein einmaliges Wiedersehen auf chinesischem Boden. Drei Tage lang haben die Brüder sich unterhalten, umarmt und unentwegt gelacht. "Wir gaben unser Bestes, traurige Themen zu vermeiden", sagt Shim.
Leben im Norden "glücklich"
Schließlich erzählt der Südkoreaner, dass sein jüngerer Bruder nach dessen Rückkehr in Nordkorea verhaftet und in ein Arbeitslager für politische Gefangene gesteckt wurde. Seither können die beiden sich nur mehr halbjährlich Briefe schicken, und auch das nur über die teuren und illegalen Dienste chinesischer Boten.
Das hat vor allem mit dem politischen Klima zwischen den beiden verfeindeten Staaten zu tun, die noch immer kein Friedensabkommen unterzeichnet haben. Zur ersten Familienzusammenführung kam es erst um die Jahrtausendwende, als der liberale Präsident und spätere Nobelpreisträger Kim Dae-jung mit seiner Sonnenscheinpolitik eine Annäherung an den Norden wagte. Seither war jedes der gut 20 Treffen mit politischen Forderungen des Nordens verknüpft. Heuer beteuerte die südkoreanische Regierung, kein Geld über die Demarkationslinie geschickt zu haben. Zumindest nicht direkt, man habe das Ferienressort, in dem die Treffen stattfinden, restauriert.
In Südkorea flimmern die Bilder davon zur besten Sendezeit über die Fernsehschirme: etwa wie die 85-jährige Lee Soon-kyu zum ersten Mal nach mehr als sechs Jahrzehnten auf ihren nordkoreanischen Ehemann trifft. In Nordkorea hingegen muss sich die Bevölkerung mit einem trockenen Propagandabericht der staatlichen Nachrichtenagentur begnügen. Dort heißt es, dass die Teilnehmer aus dem Norden ihren Verwandten erklärt hätten, wie "glücklich" und "erstrebenswert" ihr Leben im koreanischen Sozialismus sei.