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Integration mit erhobenem Zeigefinger

Von Simon Rosner

Politik

Der Historiker Philipp Ther über neue Wege in der Integrationspolitik: "Zwangsassimilation funktioniert nicht"


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Im Vorjahr nahm Österreich 90.000 Flüchtlinge auf, ein Großteil davon wird bleiben und muss integriert werden. Nur wie? Und wie sieht gelungene Integration überhaupt aus? Die Regierung will jedenfalls erstmals Integration verordnen. Das ist ein Experiment.

"Wiener Zeitung": Ist Integration der einzig gangbare Weg?

Philipp Ther: Integration wird oft missverstanden, wie man an Begriffen wie Integrationspflicht erkennt. In letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass häufig ein Befehlston angeschlagen wird nach dem Motto: Integriert Euch! Aus historischer Erfahrung lässt sich sagen, dass das so schlecht funktionieren wird. Früher hätte man das unter Assimilation diskutiert. Und eine Zwangsassimilation hat bisher in keinem modernen Staat funktioniert. Integration ist ein zweiseitiger gesellschaftlicher Prozess. Er kann nur angeregt, aber nicht angeordnet werden.

Wo ist die Trennlinie zwischen Integration und Assimilation?

Assimilation bedeutet das völlige Aufgehen einer kleineren Gruppe in einer Mehrheitsgesellschaft. Integration beinhaltet, dass bestimmte Eigenheiten bewahrt werden können und von der Aufnahmegesellschaft akzeptiert werden, die sich demnach auch bewegt. Das entspräche der erwähnten Zweiseitigkeit. In den letzten Jahren sind aber die Selbstzweifel westlicher Gesellschaften massiv gewachsen, auch aufgrund der Schwierigkeiten bei der Integration früherer Migranten. Stichwort Parallelgesellschaften, Ghettoisierung. Da ist aber ein Stück Hysterie dabei.

Aber diese Probleme gibt es, oder?

Natürlich gibt es gesellschaftliche und soziale Probleme, man kann in bestimmten Bereichen auch eine Desintegration beobachten. Das sollte man nicht schönreden. Aber man diskutiert dabei immer über den "harten Kern" der Migranten, der unter sich geblieben ist, was die Mehrheitsgesellschaft offenbar verunsichert. Über die erfolgreichen Beispiele spricht man viel weniger. Wichtig ist: Integration ist ein langfristiger Prozess. Wenn man erfolgreiche historische Beispiele heranzieht, etwa aus österreichischer Sicht die Integration der Salzburger Exilanten in Preußen, dann hat sich das über zwei, drei Generationen hingezogen.

Was ist eigentlich schlecht an Parallelgesellschaften? Haben nicht gerade diese den Vorteil, dass sich das Angebot an Dienstleistungen und Produkten erweitert? Koreanische Geschäfte können nur funktionieren, wenn die hier lebenden Koreaner wie daheim leben wollen.

Das wurde bisher oft als Bereicherung empfunden, aber ich würde das nicht idealisieren. Ein echtes Interesse an fremden Kulturen würde voraussetzen, sich mit besagten Koreanern oder hier in Wien zum Beispiel mit Türken anzufreunden und auseinanderzusetzen. Wie weit reicht denn das Interesse, auch unter Anhängern einer multikulturellen Gesellschaft? Es ist jedenfalls nicht gut, wenn soziale und kulturelle Probleme nicht beachtet werden, die zu einer Desintegration führen können. Das war eventuell in der Vergangenheit das Problem.

Bieten Parallelgesellschaft nicht aber auch den Vorteil einer inneren Solidarität, die prekär lebende Menschen auffangen und ihnen helfen kann? In den USA gibt es viele ethnische Vierteln.

Es ist meine feste Überzeugung, dass das nicht erstrebenswert ist. Außerdem haben sich die meisten Einwandererviertel in den USA im Lauf der Zeit aufgelöst. Das polnische Chicago oder das italienische New York gibt es so nicht mehr. Die Existenz solcher Viertel bedeutet auch, dass der Staat so schwach ist, dass diese Menschen auf ihre interethnische Solidarität angewiesen sind. Wir haben einen Sozialstaat, der Leistungen und Pflichten eben nicht ethnisch definiert.

Ist dieser Sozialstaat gefährdet, wenn die Gesellschaft durch Zuwanderung heterogener wird und in Parallelgesellschaften zerfällt?

Es zeichnet Wien aus, dass es eine hohe soziale Durchmischung gibt. Auch in relativ teuren Bezirken stehen Gemeindebauten, es gibt hier keine Ghettos. Dieser Errungenschaft soll man sich bewusst sein und daraus Selbstbewusstsein schöpfen. Aber dazu braucht es einen Staat, der gut wirtschaftet, um weitere Gemeindebauten zu errichten und die lebensweltliche Integration voranzutreiben. Wenn man die jetzigen Flüchtlinge auf jene Bezirke zurückwirft, die schon einen hohen Ausländeranteil aufweisen, wäre das bedauerlich. So könnten bestimmte Grätzel auf die Dauer zu sozialen Brennpunkten werden.

Das spräche für die Residenzpflicht, die derzeit diskutiert wird.

Ich bin Historiker und halte mich bei politischen Ratschlägen zurück. Aber bei historischen Beispielen gelungener Integration gab es immer wieder solche Pflichten. Den Salzburger Exilanten wurde Agrarland mit der Erwartung gegeben, dass sie dann dort bleiben. Auch bei späteren Flüchtlingen wurden Hilfen an ähnliche Vorschriften geknüpft. Aber bei der Residenzpflicht ist zu beachten: Inwieweit gibt es am gegeben Ort Arbeitsplätze und Möglichkeiten der beruflichen Integration? Dass alle in die Großstadt ziehen, kann kein Modell sein. Genau deshalb ist es auch wichtig, viel über die Flüchtlinge zu wissen. Das ist eine Grundvoraussetzung der Integration und ich verwiese hier wieder einmal auf die Aufnahmegesellschaft.

Das wenige, das man weiß, führt aber offenbar zu pessimistischen Projektionen in weiten Teilen der Gesellschaft.

Es gibt derzeit zu viele Ängste und zu wenig Selbstvertrauen. Was übrigens auch ungünstig für die Integration ist. Die Ankommenden müssen ein klares Ziel haben, wohin und womit sie sich integrieren. Wenn die Mehrheitsgesellschaft so verunsichert und überwiegend auf Abwehr gepolt wird, fehlt das Integrationsziel.

Sie haben die Zweiseitigkeit der Integration betont. Seit Köln und teils schweren Verbrechen in Österreich hat sich bei der Aufnahmegesellschaft viel verändert. Anderseits sind auch Flüchtlinge, anders als die Gastarbeiter früher, Menschen, die ihre Heimat verloren und nicht freiwillig verlassen haben. Ist auch das eine Erschwernis?

Die gegenwärtige Konstellation ist in verschiedener Hinsicht ungünstig. Die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak sind häufig traumatisiert. Manche werden nicht sofort eine Arbeit annehmen können, selbst wenn sie gut qualifiziert sind. Ein Arbeitsmigrant, der aus freien Stücken kommt, hat dagegen mehr Ressourcen, vielleicht ein Haus und Unterstützer daheim, während Kriegsflüchtlinge meist völlig verarmt ankommen. Und natürlich haben sich die Bedingungen in den Aufnahmegesellschaften verändert. Viele einfache Tätigkeiten, wegen deren Migranten einst gekommen sind, sind weggefallen oder wegrationalisiert. Generell sind in einer sehr arbeitsteiligen Gesellschaft und Wirtschaft die Bedingungen für eine berufliche Integration schlechter. Auf der andern Seite kommen diese Menschen in Länder, die wohlhabender sind als früher. Hier spielen wieder Verunsicherung und Zweifel eine Rolle: Viele Österreicher haben Angst vor einem Wohlstandsverlust und projizieren das auf Flüchtlinge.

In Österreich versucht man mehr über die Flüchtlinge zu erfahren, etwa über Kompetenzchecks. Und man wird bereits Asylwerber in Kurse stecken. Sinnvoll?

Wer die Integration fördern will, muss wissen: Wer sind die Flüchtlinge, was können sie? Natürlich geht es auch um Sprache, um sich überhaupt zurechtzufinden. Wobei die Frage ist, ob Sprache allein ein Element der Integration ist. Da gibt es historische Beispiele, bei denen die Sprache leider nicht gereicht hat: zum Beispiel bei den österreichischen Juden. Die wurden trotzdem desintegriert, verfolgt und ermordet. Sprache ist aber sicher wichtig für den Arbeitsmarkt.

Sind hier bei früheren Migrantengruppen Fehler passiert?

Die sprachliche Integration der zweiten und dritten Generation der ehemaligen Gastarbeiter könnte besser sein. Das liegt unter anderem daran, dass wir auch medial in einer transnationalen Welt leben. Man kann über Satellit ausländische Kanäle empfangen und komplett in einer sprachlichen Parallelwelt existieren. Das kann dazu führen, dass sich die Kenntnisse der deutschen Sprache im Wechsel der Generationen sogar verschlechtern.

Sie sehen das Einfordern von Integrationsleistungen eher kritisch. Aber gibt es Alternativen?

Ich bin skeptisch, weil Zwangsassimilation in modernen Gesellschaften eben noch nie funktioniert hat. Meine Befürchtung ist, dass es abschreckend wirkt, wenn der Integrationsbegriff überladen wird und man den Flüchtlingen ständig unter die Nase reibt, was sie alles nicht können und angeblich nicht wollen.

Aber wenn sich Flüchtlinge Integrationsmaßnahmen verweigern?

Natürlich ist es sinnvoll, einen Sprachkurs zu machen. Und wer sich da verweigert, soll selbstverständlich mit Sanktionen belegt werden. Aber das kann man in den Ausführungsbestimmung von Sozialleistungen festlegen. Wozu muss das in einer Integrationsvereinbarung stehen? Es gibt schon jetzt Sozialleistungen, die an Bedingungen geknüpft sind, die Familienbeihilfe beispielsweise an Untersuchungen beim Kinderarzt oder das Arbeitslosengeld an der Bereitschaft, einen vom AMS zugewiesenen Job anzunehmen. Wozu solche Vorschriften unter dem Begriff der Integration verpacken? Das ist eine Überladung des Begriffs. Daher fürchte ich auch, dass die bekannten Integrationsvereinbarungen eher desintegrierend wirken werden.

Wie optimistisch sind Sie, dass sich die Aufregung beruhigt?

Es braucht vor allem mehr Zeit. Das Problem ist, dass die Situation jetzt künstlich aufgeheizt wird. Die Flüchtlinge werden fast nur als Belastung und Gefahr wahrgenommen, man spricht ständig über Grenzzäune, Einwanderungs- und Integrationspolitik werden fortwährend miteinander vermischt. Hier hat der neue Bundeskanzler kluge Worte gesagt, man muss mit den Menschen, die hier sind, etwas anfangen. Ein Teil der Flüchtlinge werden sicher eine Bereicherung sein. Das war in der Geschichte immer so.

Zur Person

Philipp Ther

ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Uni Wien, zuvor war er Professor am EUI in Florenz. Sein jüngstes Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa" (Suhrkamp), das 2014 auf der Leipziger Buchmesse den Sachbuchpreis erhielt, ist nun in einer aktualisierten Neuauflage erschienen.