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Intellektuelle Nomaden

Von Hermann Schlösser

Reflexionen

Der altgriechische Begriff "Diaspora" ist in der derzeitigen gesellschaftskritischen Diskussion von großer theoretischer Bedeutung. Warum eigentlich? - Versuch einer Klärung.


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Carolyn Christov-Bakarkiev stammt aus den USA, ist die Tochter eines bulgarischen Arztes und einer italienischen Architektin und hat in Italien und Australien als Kunstkritikerin und Ausstellungskuratorin gearbeitet. Heuer ist diese global agierende Kunstvermittlerin verantwortlich für die ambitionierteste Kunstschau, Deutschlands: die "Documenta", die vom 9. Juni bis 16. September in Kassel stattfindet.

Wurzellosigkeit

Einem Bericht im "Spiegel" ist zu entnehmen, dass die Kuratorin auf der Schau jene Themen in den Vordergrund stellt, die ihrer multinationalen Biographie entsprechen, also zum Beispiel: " . . . die erzwungene Wurzellosigkeit vieler Menschen, die in dem Bewusstsein leben, an einem Ort sein zu müssen und an einem anderen Ort sein zu wollen."

Dieser persönlichen Prägung entsprechend, hat Carolyn Christov-Bakariev eine Reihe von Künstlern eingeladen, deren Lebensläufe sich einer klaren nationalen Zuordnung entziehen: Der Vietnamese Dinh Q. Lê, der in Kassel vertreten ist, pendelt zwischen den USA und seinem Herkunftsland, der Amerikaner Michael Rakowitz, der einer jüdisch-irakischen Familie entstammt, lebt und lehrt zurzeit in Afghanistan. Die Arbeiten dieser und anderer Künstler findet Carolyn Christov-Bakarkiev spannend, weil es sich hier um "Diaspora-Künstler" handelt, wie sie es nennt.

Damit ist ein Begriff im Spiel, der seit einigen Jahren Konjunktur in den avancierten Kultur- und Gesellschaftstheorien hat: Diaspora. Im Unterschied zu anderen sozialwissenschaftlichen Termini ist bei diesem nicht auf Anhieb zu erkennen, was genau darunter zu verstehen ist; doch ist diese definitorische Unschärfe kein Mangel des Begriffs, sondern die Basis für seine Wirksamkeit. Darüber wird später noch genauer zu reden sein, fürs Erste genügt hier die Feststellung: Alles, was irgendwie nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehört (oder gehören will), kann derzeit als "Di-aspora" bezeichnet werden - von den großen Migrantenkolonien in den Metropolen bis zu den kleinen Künstlerkolonien in Greenwich Village oder Kassel.

Auch im Internet, wo sich wahrhaft zeitgemäße Menschen ja viel lieber aufhalten als in der Realwelt, ist der Begriff "Diaspora" im Gebrauch. Er bezeichnet dort ein soziales Netzwerk, das gerade aufgebaut wird und das im bewussten Unterschied zu Facebook den Usern die freie Verfügung über ihre Daten belässt.

Ein Blick zurück

Wenn der Begriff "Diaspora" auch mit einer gewissen aktuellen Brisanz aufgeladen ist, so ist er doch keineswegs neu. Er stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet "Zerstreutheit". Im Alten Testament wird er verwendet, um das babylonische Exil der Juden zu beschreiben.

Das jüdische Volk, das in alle Welt zerstreut wurde, galt lange als das Diaspora-Volk schlechthin: In fremden Ländern ansässig, dennoch immer und überall der Herkunft - oder doch der Erinnerung daran - treu. Der kanonische Text, der diesem jüdischen Diaspora-Gefühl seinen gültigen Ausdruck verleiht, ist der 137. Psalm, dessen erste Strophen in der Übersetzung Martin Luthers lauten:

"An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.Denn die uns gefangenhielten, hießen uns dort singen und in unserm Heulen fröhlich sein: Singet uns ein Lied von Zion!’Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande?Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte."

Allerdings wurde der Begriff "Diaspora" nicht nur verwendet, um das tragische Schicksal des jüdischen Volkes zu beschreiben. Auch die christlichen Kirchen kennen ihre jeweiligen Diasporen. Um die katholischen Minderheiten kümmert sich das "Bonifatiuswerk", um die protestantischen das "Gustav-Adolf-Werk".

Beiden Institutionen ist daran gelegen, dass die Diaspora-Gemeinden einerseits die Bindung an die zentrale Mutterkirche nicht verlieren, andererseits dort, wo sie leben, nicht zur Wirkungslosigkeit verdammt sind. Auf der Website des Gustav-Adolf-Werks heißt es in diesem Sinne: "Das Wort Diaspora drückt sowohl die Einsamkeit im Glauben aus als auch die Chance, neue Impulse in die Gesellschaft einzubringen."

Politische Umdeutung

Ein Begriff, der für lange Zeit entweder alttestamentarisch oder seelsorgerisch besetzt war, hat nun im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine explosive gesellschaftspolitische Bedeutung gewonnen. Wer darüber Genaueres wissen will, sollte das interessante Buch "Lebensmodell Di-aspora" konsultieren, das von Isolde Charim und Gertraud Auer Borea herausgegeben wurde. In diesem umfangreichen Band sind Vorträge gesammelt, die zwischen 2007 und 2011 im Wiener "Bruno Kreisky-Forum für internationalen Dialog" gehalten worden sind. 25 theoretisch versierte Referentinnen und Referenten zeigten in dieser Reihe, was der Begriff "Diaspora" zu leisten vermag, wenn er entsprechend verwendet wird.

Das Gemälde eines Überlebenden aus Auschwitz-Birkenau: Adolf Frankl (1903-1983): Die Klagemauer, Öl auf Leinwand, Werknummer 120, 60 x 80 cm, um 1968. Das Bild war als Leihgabe von Thomas Frankl, dem Sohn des Malers, in der Ottakringer Ausstellung zu sehen.
© © Beste Erener

Die Vortragenden kommen aus unterschiedlichsten Ländern, und viele von ihnen sind selbst "Diaspora"-Intellektuelle, die nicht in dem Land leben, in dem sie geboren sind. Gewiss bestehen zwischen ihren Ansätzen erhebliche theoretische Differenzen. Doch scheint allen gemeinsam zu sein, dass sie den alten Begriff neu deuten: Der "klassischen" Vorstellung von Diaspora entspricht eine kleine Gruppe, die sich gegen die Lebensform einer Mehrheitsgesellschaft mit ihren Eigenheiten und Gebräuchen behauptet - ohne dass die Werte und Lebensweisen der Mehrheit dadurch berührt würden.

In der aktuellen Diskussion wird die Beziehung zwischen der Diaspora und der sie umgebenden Welt dynamisiert: Angesichts der Mobilität großer Bevölkerungsgruppen, so die These, werde es immer schwieriger, zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft zu unterscheiden. So, wie in den großen Städten die Differenz zwischen Zentrum und Peripherie hinfällig wird, entfällt auch die Möglichkeit, einen graduellen Unterschied zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen zu denken.

Diese Veränderungen sind vor allem in den Großstädten zu bemerken. Der Philosoph Zygmunt Bauman - ein Pole, der in England lehrt - bezeichnet die Städte deshalb als "Versuchslabor für die neue und äußerst schwierige Kunst des Zusammenlebens von unterschiedlichen Menschen, die ihre Unterschiedlichkeit weder aufgeben noch verlieren."

Ohne Leitkultur

Wenn aber alle "Unterschiedlichkeiten" gleichermaßen ausgelebt werden, kann es keine Hegemionial- oder "Leitkultur" mehr geben, auch wenn konservative Politiker und Philosophen an dieser Idee festzuhalten versuchen. Denn es ließen sich keine Werte und Normen mehr begründen, die das Recht beanspruchen könnten, andere Haltungen als "abweichend" zu marginalisieren.

Glaubt man den Analysen des Sammelbands "Lebensmodell Di-aspora", dann sind wir also weltweit auf dem Weg in Gesellschaftsformationen, die nur noch aus einer Fülle "diasporischer" Kleingruppen bestehen. Es wird nicht geleugnet, dass diese Lage zu gesellschaftspolitischen Spannungen führen kann. Auch sind die im Sammelband vertretenen Wissenschafter weit davon entfernt, jede nur denkbare Randgruppe zu idealisieren. Der 2010 verstorbene Tony Judt - ein Brite, der in den USA lebte - weist zum Beispiel darauf hin, dass die nahostpolitischen Vorstellungen der jüdischen Diaspora in den USA dogmatischer sind als diejenigen vieler Israelis. Und der amerikanische Politologe Benedict Anderson beschreibt nicht ohne Ironie eine Zeitung, die in der philippinischen Diaspora in Kalifornien gern gelesen wird: "Viele Philippinos haben ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Land verlassen haben, und wollen daher in der Zeitung lesen, dass die Verhältnisse daheim wirklich schlimm sind und sie gut daran taten, nach Kalifornien zu gehen. Die nächste Seite hingegen ist voll von Großmutter-Rezepten für die gute philippinische Küche."

Linke Hoffnungen

Angesichts dieser und anderer Unstimmigkeiten meint die Bandherausgeberin Isolde Charim in ihrer Einleitung : " . . . machen wir uns keine Illusionen, Diasporagemeinschaften sind nicht alle Versuchsstationen für progressive Lebensformen."

Khaled Khoshdel, geboren 1976 in Kabul: "Jeder hat ein Recht auf Leben, Sicherheit, Freiheit und Arbeit", 2010, Acryl auf Leinwand, 1,20 m x 90cm. Beste Erener
© © Beste Erener

"Nicht alle" - diese kleine Einschränkung ändert jedoch nichts daran, dass die Rednerinnern und Redner aus dem Bruno Kreisky-Forum an die Existenz unterschiedlicher Diasporen emanzipatorische Hoffnungen knüpfen. Warum - das erklärt wohl am besten Saskia Sassen, eine amerikanische Soziologin niederländischer Herkunft: Sie glaubt oder hofft, dass "das Diasporische" "die Kategorien ins Wanken" bringen könnte. Große Begriffe wie "Staat" oder "Ökonomie" sind für Sassen "Master-Kategorien", die zwar keineswegs falsch oder sinnlos sind, aber doch vieles, was auf der Welt existiert, nicht erfassen. "Sie werfen einen großen Schatten auf alles, was vielleicht auch dazugehört." Den diversen Diasporen traut Saskia Sassen nun zu, aus dem Schatten der Master-Kategorien herauszutreten und ein Eigenleben jenseits der Ordnungsbegriffe zu führen.

In alter linker Denktradition sucht Saskia Sassen also nach einem Subjekt der Geschichte, das als radikale Antithese zum Bestehenden wirken könnte. Frühere Theoretiker besetzten diese Position in ihrem System meist mit dem "Proletariat" - und das unabhängig von der Frage, ob die Proletarier selbst mit der historischen Aufgabe einverstanden waren, die ihnen zugedacht wurde.

An manchen Stellen des Buches "Lebensmodell Diaspora" drängt sich der Eindruck auf, mittlerweile sei in der linken Gesellschaftskritik ein neuer Akteur der Geschichte aufgetreten, und "das Proletariat" sei durch "die Migranten" ersetzt worden.

Gewiss ist auch die Vorstellung von der emanzipatorischen Kraft der Migration zunächst einmal ein theoretisches Konstrukt. Wie viel Realität darin enthalten ist, muss sich noch zeigen. Gayatri Chakravorty Spivak, eine indisch-amerikanische Literaturwissenschafterin, rät zur Vorsicht, indem sie anmerkt: "Nicht jeder, der in der Diaspora lebt, kennt dieses Wort. Das vergisst man mitunter."

So viel also zu diesem anregenden Buch mit dem Untertitel "Über moderne Nomaden". Wer jetzt einwendet, dass nicht alle Menschen dieser Erde Migranten sind oder sein wollen, der hat gewiss Recht, überschreitet aber zugleich die Erkenntnisinteressen dieses Buches. Kulturen der Sesshaftigkeit oder der Verwurzelung werden hier nicht näher untersucht. Denn dafür haben "moderne Nomaden" wenig Verständnis.

Isolde Charim, Gertraud Auer Borea (Hrsg.): Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. transcript Verlag, Bielefeld 2012, 272 Seiten, 24,80 Euro.

Hermann Schlösser, 1953 in Worms (D) geboren, studierte in Deutschland und England, arbeitete eine Zeit lang in Ita-lien und ist seit 1997 Redakteur des "extra".

"Fluchtlinien"

Die Kunstwerke, die hier gezeigt werden, entstammen der Ausstellung "Fluchtlinien. Kunst und Trauma", die vor kurzem im Rahmen von "Soho in Ottakring" in der Alte Schieberkammer, Meiselstraße 20, stattfand.
Wie wurden und werden gesellschaftliche Traumata wie Holocaust oder das existenzielle Drama von Flüchtlingen in der Kunst verarbeitet? Vor allem diese Frage wurde in der Ausstellung gestellt, wobei das Motiv der Fluchtlinie den roten Faden bildete, der die Exponate zusammenhielt.