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Intelligent sparen in der Justiz

Von Alfred J. Noll und Josef Zaussinger*

Wirtschaft

Weniger Fehlurteile durch weniger Richter? Klingt unglaubwürdig, ist es aber nicht. Behaupten zumindest Rechtsanwalt Alfred Noll und Mathematiker Josef Zaussinger. Für die "Wiener Zeitung" treten die beiden den mathematischen Beweis an.


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Sparen ist an sich eine einfache Sache - man braucht bloß weniger Geld auszugeben. Dort freilich, wo uns durch die Verfassung Maßstäbe gesetzt sind, gerät der verminderte Einsatz von Ressourcen rasch zur Bedrohung unverzichtbarer Rechtsgüter. Die Gretchenfrage also lautet nicht, wo lässt sich sparen, sondern vielmehr: Wie lässt sich sparen und gleichzeitig den Geboten staatlicher Rechtsgewährleistung entsprechen?

Unsere Richter sind fehlbar. Entscheidungen der ersten Instanz können daher angefochten werden - ein auch durch die Menschenrechtskonvention verbürgtes Recht. In der zweiten Instanz sollte die Sache besser gemacht werden als in der ersten. Zumindest aber sollte die Wahrscheinlichkeit eines "richtigen Urteils" durch die Rechtsmittelgerichte steigen (sonst bräuchte man sie nicht).

Ein wesentliches Prinzip der Qualitätsverbesserung ist es, Rechtsmittelentscheidungen durch Mehr-Personengremien fassen zu lassen. Diese Senate bestehen in der Regel aus drei Richtern, jedenfalls aber ist die Anzahl der Richter immer ungerade. Das dahinter stehende Argument ist, dass eine Erhöhung der Anzahl der Richter auch eine Erhöhung der "Trefferwahrscheinlichkeit" bringt.

Das ist aber nicht in jedem Fall richtig. Wir behaupten, dass man in diesen Berufungssenaten je einen Richter einsparen kann - und damit die Wahrscheinlichkeit eines "richtigen Urteils" nicht vermindert, sondern erhöht!

Wie lässt sich dies begründen? Die drei versammelten Richter urteilen im Idealfall voneinander unabhängig, und die Mehrheitsmeinung stellt die Meinung des Senats dar. Betrachten wir aus Gründen der Einfachheit zunächst nur Fälle, in denen es lediglich zwei Meinungen geben kann (Zuspruch oder Abweisung, Freispruch oder Verurteilung, Abänderung oder Bestätigung des Ersturteils etc.). Und nehmen wir weiters an, dass alle drei Richter mit der gleichen Häufigkeit falsch urteilen. Dann ergibt sich aus mathematischer Sicht das folgende Bild: Drei Juristen brüten über einem Akt und werfen ihre drei Meinungen in die Waagschale der Justitia. Mit R für ein richtiges Urteil und F für ein falsches Urteil sind dann vier verschiedene Ergebnisse möglich: RRR (alle drei Richter haben richtig geurteilt), RRF (einer hat falsch geurteilt), RFF (zwei haben falsch geurteilt) und FFF (alle haben falsch geurteilt).

In den ersten beiden Fällen liefert der Senat ein "richtiges Urteil", in den beiden letzten Fällen urteilt er falsch. Unterstellt man nun ganz vorsichtig jedem einzelnen der drei Richter eine Fehlurteilshäufigkeit von 10%, dann wird das Gremium 2,8% falsche Urteile sprechen (mit f bzw. r für die Wahrscheinlichkeit eines falschen bzw. richtigen Urteils durch ein Senatsmitglied erhält man aus f³+3f²r=0,028 die Wahrscheinlichkeit der falschen Senatsurteile). Lässt man aber zwei Richter urteilen und setzt voraus, dass ein Urteil nur dann zustande kommt, wenn keine Pattsituation eintritt, dann würden dabei 81% richtige und 1% falsche Urteile herauskommen - allerdings um den "Preis", dass ein derartiger Zweiersenat in 18% der Fälle keine Entscheidung zustande bringen würde. In den Fällen aber, in denen sie zu einem übereinstimmenden Ergebnis finden, urteilen sie richtiger als der Dreiersenat (es kommt dann unter Beibehaltung unserer Annahmen nur noch zu 1,2% Fehlurteilen bezogen auf die entschiedenen Fälle).

Reduktion der Senate von drei auf zwei Richter

Dieses Ergebnis zehrt von dem Faktum, dass bei einer Übereinstimmung von zwei Richtern die Meinung des dritten bedeutungslos ist. Dort aber, wo die beiden zu keiner einheitlichen Meinung finden, kann der dritte Mann sein ganzes Gewicht auch in Form von Fehlurteilen in die Waagschale werfen und die Bilanz wesentlich verschlechtern. Die logische Forderung aus dieser Erkenntnis: Reduktion der Senate um ein Mitglied!

Bleibt das Problem der unentschiedenen Fälle, in denen es zu keiner Übereinstimmung gekommen ist. Für diese Fälle könnte ein anderer Zweiersenat befasst werden, der seinerseits versucht, eine gemeinsame Linie zu finden. Wenn auch dieser Senat keine Übereinstimmung findet, ein weiterer usw. Um eine endlose und nicht praktikable "ewige" Wiederholung zu vermeiden, könnte man nach drei Durchläufen einen Einzelrichter entscheiden lassen oder das schon bestehende Ersturteil für rechtskräftig erklären.

Der nahe liegende Einwand, dass damit erst recht wieder mehr Aufwand getrieben und nichts gespart würde, geht fehl: Wenn der Aufwand je Akt für jeden damit betrauten Richter konstant gleich A ist, dann verursacht der Dreiersenat einen Gesamtaufwand von 3A, der Zweiersenat jedoch nur 2A. Dazu ist noch der Aufwand für etwaige Wiederholungen zu addieren. Rechnet man mit den oben festgesetzten Wahrscheinlichkeiten für richtige und falsche Urteile, dann sinkt der Aufwand trotz vielleicht notwendigen Wiederholungen der Senatsentscheidung um ca. 19% bei gleichzeitiger Reduktion der Zahl der Fehlurteile um mehr als die Hälfte. (in 2fr=0,18 Fällen wird eine Wiederholung notwendig, der Gesamtaufwand beträgt daher 2A+2A0,18+2A0,18²+2A*0,18³+...=2,44A).

Die Ersparnis ist umso größer, je geringer die Fehlerhäufigkeit der Richter ist. Unfehlbare Richter würden im Zweiersenat stets übereinstimmen, Wiederholungen obsolet machen und eine Ersparnis von einem Drittel ermöglichen.

Der potentielle Nachteil der längeren Bearbeitungszeit durch die selten notwendigen Wiederholungen lässt sich durch den geringeren Gesamtarbeitsaufwand für die Justiz leicht wettmachen. Die Liegedauer eines Aktes wird nach Abarbeiten der bereits eingelangten Fälle auf Null verkleinert. Nichts sollte uns also daran hindern, in den Berufungssenaten kräftig einzusparen, um damit die Wahrscheinlichkeit von Fehlurteilen zu senken!

Schöffensenate: Reduktion auf drei Richter nachteilig

Obige Rechnung lässt sich auch auf die aktuellen Überlegungen zur Verkleinerung der Schöffensenate anwenden: Für Schöffensenate mit jeweils zwei Berufs- und Laienrichtern führt die Reduktion der Richter im mathematischen Modell zu einer deutlichen Verschlechterung der Spruchpraxis, weil Vierersenate besser als Fünfersenate und diese wiederum besser als Dreiersenate urteilen.

Wir müssen aber auch berücksichtigen, dass bei Stimmengleichheit im Schöffensenat zugunsten des Angeklagten entschieden werden muss (§ 20 Abs. 3 StPO). Für eine derartige "Zweifelsentscheidung" genügt es derzeit, die Hälfte des Senats auf seiner Seite zu haben. Reduziert man die Zahl der Richter auf drei, müsste man für eine Entscheidung zugunsten des Angeklagten die Mehrheit des Senats gewinnen - und hätte dann auch noch eine höhere Wahrscheinlichkeit eines Fehlurteils. Wir sollten intelligenter sparen!

* Dr. Alfred J. Noll ist Anwalt in Wien und Universitätsdozent für Öffentliches Recht und Rechtslehre, Dr. Josef Zaussinger ist freier Mathematiker und Ziviltechniker in Wien.