Dieter Gawora, Brasilien-Experte an der Universität Kassel, zeigt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass Zuckeranbau und Landverteilung mit einander in Verbindung stehen. Auf der einen Seite profitieren Großgrundbesitzer vom Zuckeranbau. Auf der anderen Seite arbeiten Zuckerrohrschneider um wenig Geld oft in ungesicherten Verhältnissen ohne Sozialstandards und kämpfen Landlose um ein Stück Boden.
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"Wiener Zeitung": Herr Dr. Gawora, Pater Fernando von einer Landlosen-Organisation in Brasilien sagt: "Brasilianischer Zucker schmeckt nach Blut" (siehe unten).
Dieter Gawora: Dem kann man kaum widersprechen. Zuckerrohrschneiden findet unter ekelhaften Arbeitsbedingungen statt. Man kann dennoch sagen, dass die Menschen zumindest noch Arbeit haben. Für den Sojaanbau werden viel weniger Landarbeiter benötigt, Maschinen übernehmen die Arbeit, ein Landlosenheer ist die Folge. Aber, bitte mich nicht misszuverstehen: Zuckerrohrschneiden ist eine sehr harte Arbeit und die Bezahlung sehr schlecht. Und es handelt sich oft um ungesicherte Arbeitsverhältnisse. Als Tagelöhner bekommt man nicht einmal einen Grundlohn. Da wird man von einer Zentralsammelstelle abgeholt und am nächsten Tag wartet man wieder auf den Lkw - dann wird man sehen, ob man wieder auf die Plantage mitgenommen wird.
"Wiener Zeitung": Vom Zucker profitieren in erster Linie die Großen in Landwirtschaft und in Industrie. Viele haben sich von der Regierung Lula Änderungen erwartet.
Dieter Gawora: Die Erwartungshaltung an Lula ist sehr groß gewesen, in vielen Bereichen, auch wenn jedem klar war, dass nicht der Himmel auf Erden statt finden wird. Reformen umzusetzten birgt jede Menge Konflikte und gesellschaftliche Probleme. Es wurde aber ein massives Angehen in dem Rahmen erwartet, der möglich ist. Da, wo sich die Enttäuschung breit macht, herrscht die Auffassung, dass Möglichkeiten nicht ausgeschöpft würden, die an sich vorhanden wären.
Auch bei der Agrarreform gibt es Konflikte und Schwierigkeiten. Sie ist immer nur bruchstückhaft gemacht worden, zwar ein Stück weit vorangegangen, aber es gibt noch Spielraum. Dass unter Lula nicht plötzlich alles anders wird, ist der Landlosenbewegung MST (Moviemento Sem Terra), klar. Sie sind aber sauer und organisieren sich, haben den "Roten April" ausgerufen mit dem Marsch auf Brasilia. Die gehen auf die Barikaden und besetzen Land.
"Wiener Zeitung": Wie gehen Landbesetzungen vor sich?
Dieter Gawora: In der Regel besetzen Landlose brachliegendes Land - meist im Nordosten und Süden, kaum in Amazonien. Das Land wird von den Großgrundbesitzern nicht genutzt, die Landlosen wollen es bewirtschaften. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von 20, 50, 100 Menschen, Familien von verschiedenen Orten. Planen werden ausgebreitet, das sieht alles sehr ärmlich aus. Der Großgrundbesitzer holt die Polizei. Wird das Land den Besetzern zugesprochen, erhält der Großgrundbesitzer eine Entschädigung. Wie diese aussieht, ist nicht geregelt. Die Besetzer teilen das Land entweder in individuelle Parzellen oder bewirtschaften es in Genossenschaften. Das funktioniert sehr gut.
"Wiener Zeitung": Dann ist "Happy End"?
Dieter Gawora: Landbesetzungen sind harte Auseinandersetzungen, der Großgrundbesitzer geht oft mit Waffen gegen die Menschen vor. Diese Zeit der Auseinandersetzung dauert etwa zwei bis drei Jahre. Nicht immer geht die Besetzung positiv aus, wird das Land den Besetzern zugesprochen. Die Besetzung ist eine große psychische Belastung, von 100 Besetzern halten 50 bis 80 durch und bleiben. Stellen Sie sich vor: Die Kinder sind krank, es fehlt an Medikamenten, was ist mit der Schule, dann regnet es, der Wind geht, man sitzt in der Plastikhütte und friert.
"Wiener Zeitung": Wie geht es weiter?
Dieter Gawora: Wird den Besetzern das Land zugesprochen, leben die Menschen in ihren Plastikhütten und produzieren vorerst nicht, warten ab. Dann muss Saatgut herbeigeschafft werden. Bis etwas wächst, vergeht Zeit. Die Vorstellung vieler Landpastorale, allen Arbeitern, die unter prekären Verhältnissen, etwa vom Zuckerrohrschneiden, leben, Land zu geben, ist soweit gut. Aber: Der Landarbeiter, der immer nur Zuckerrohr geschnitten hat, kann nicht plötzlich Land bebauen, wenn er nicht weiß, wie das funktioniert. Er braucht Beratung, einen Kleinkredit, ansonsten scheitert das. Ist das der Fall, funktioniert die Genossenschaft - auch, weil man eine gemeinsame Kampferfahrung hat. Das schweißt zusammen.
"Wiener Zeitung": Baut man nur für den Eigenbedarf an, oder werden die Waren auch verkauft?
Dieter Gawora: Aus den Strukturen der Genossenschaft heraus werden die Waren auf agroökologischen Märkten in den Städten wie Porto Alegre verkauft. Ich war erstaunt, wie das funktioniert, in wieweit die ökologische Frage wirklich Teil des Programms ist. Ich dachte zunächst, die erzählen das halt den Europäern, weil die das hören wollen. Aber: Die ökologische Produktionsweise hat einen realökonomischen Hintergrund: Die Bäuerinnen und Bauern wollen von den Multis unabhängig sein, viele machten schlechte Erfahrungen.
"Wiener Zeitung": Das bekannte Dilemma? Das Saatgut der Multis braucht bestimmte Pestizide, die Bäuerinnen und Bauern sind vom Unternehmen abhängig?
Dieter Gawora: Ja, so wird bestimmt, was angebaut wird, wieviel Pestizide, Herbizide usw. benötigt werden. Da gibt es Knebelverträge. Verschuldung. Deshalb ist der ökologische Teil ein absoluter Teil der Genossenschaftsbewegung. Deshalb heißt es auch nicht: 'Ok, wir bauen zuerst überhaupt etwas an und schauen dann vielleicht auf Umweltaspekte.'
"Wiener Zeitung": Würden Kleinbauern von einer Zuckermarktöffnung, Zoll- und Subventionsabbau, profitieren?
Dieter Gawora: In erster Linie würden die Großgrundbesitzer profitieren. Ich bin nicht unbedingt dafür, dass die Märkte geöffnet werden, wenn das die Ausweitung des Zuckeranbaus in Brasilien zur Folge hätte.
Das Gespräch führte Christine Zeiner