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Inventur in der Natur

Von Peter Markl

Wissen

Das Thema "Artenvielfalt" provoziert immer wieder erregte Debatten - und die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Frage, wie viele Arten überhaupt wissenschaftlich erfasst sind.


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Es gibt Fragen, die bei vielen Diskussionen ständig im Hintergrund lauern, selbst aber kaum je explizit erörtert werden. Das kann viele Gründe haben. Einer davon ist fraglos, dass schon die Suche nach einer Antwort in ein Gebiet führt, in dem weithin akzeptierte Tabus berührt werden. Im gegenwärtigen intellektuellen Klima stößt man auf solche Fragen immer wieder auch in Gesprächen mit Menschen, welche von umweltethischen Fragen begeistert sind, wobei es vor allem unter Geisteswissenschaftern als endgültig ausgemacht gilt, dass man vor quantitativen Angaben in ethisch relevantem Kontext gar nicht eindringlich genug warnen kann. Dabei sind quantitative Angaben doch für jeden Versuch, sich auf die reale Welt ernsthaft einzulassen, um sie in eine gewünschte Richtung zu verändern, unumgehbar.

Es ist dennoch nicht zu leugnen, dass vieles, das man aus ethischen Gründen für wünschenswert hält, nicht sinnvoll quantifiziert werden kann, und dass zu viele Naturwissenschafter zu oft der Versuchung erliegen, durch die Angabe von Zahlen (ohne Beifügung ihrer Unsicherheit) den Eindruck präzisen Wissens zu vermitteln. Eine kritische Diskussion der Genese dieser Zahlen - oft schon lange, bevor man sich in Details verheddert - kann leicht einsichtig machen, dass solche windigen Angaben eigentlich einem ethisch nicht vertretbaren Täuschungsmanöver gleichkommen. Gegen diese Versuchung sind natürlich auch bioethisch Motivierte nicht gefeit.

Fragwürdige Zahlen

Eine Frage, die schon eine aufgeweckte, biologisch sensibilisierte Fünfzehnjährige stellen könnte, tritt immer wieder inmitten all der Predigten über die Artenvielfalt auf: Für die Zahl der heute lebenden Spezies werden unglaublich große Zahlen (ohne Angabe ihrer Unsicherheit) genannt, oft verbunden mit schauererregend großen Prozentsätzen (natürlich wieder ohne Unsicherheitsangabe), welche illustrieren sollen, wieviel Prozent davon durch die Hybris der Menschen aussterben werden. Wie befriedigend ist es aber wirklich, hören zu müssen, dass - den besten bis vor kurzem verfügbaren Abschätzungen zufolge - heute zwischen drei und 100 Millionen Spezies leben - also Lebewesen, deren Zellen einen Zellkern haben ("eukaryotische Zellen" in wissenschaftlicher Terminologie)?

Der für solche Fragen führende Experte ist Robert May, Lord May of Oxford, der so viele akademische Ehren empfangen hat, dass man sie hier gar nicht alle aufzählen kann. Er ist ein aus Australien stammender, heute in Oxford lehrender theoretischer Ökologe. Seiner Ausbildung nach ist er theoretischer Physiker, mittlerweile aber zur Biologie konvertiert - und mit allen Auszeichnungen dekoriert, die es für sein Fach gibt: dem Crawford-Preis der Schwedischen Akademie der Wissenschaften (äquivalent einem Nobelpreis, den es für Biologie ja nicht gibt), dem italienisch-schweizerischen Balzan Preis (verliehen für wichtige Beiträge zur Biodiversität) und dem japanischen Blue Planet Preis (für die Entwicklung von Werkzeugen zur Planung von Maßnahmen zum ökologischen Artenschutz).

Mathematische Modelle

Der von vielen Wissenschaftern auch persönlich verehrte Lord May war von 1995 bis 2000 Hauptwissenschaftsberater der englischen Regierung und ist Mitglied von deren Beirat für Fragen des Klimawandels. Er hat immer wieder in populärwissenschaftlichen Beiträgen zu heißen Themen Stellung genommen, zum Beispiel in dem Essay "Ökologie für Banker", in dem er diese Branche auf mathematische Modelle von Ökosystemen aufmerksam machte, mit deren Hilfe durchgespielt wurde, wie man aufgrund der formalen Ähnlichkeit des weltweit vernetzten globalen Ökosystems mit den ebenso global vernetzten Finanzmärkten erkunden kann, unter welchen Bedingungen systemimmanente Fehler dazu führen können, dass solche dynamischen Systeme aus anscheinend stationären Zuständen in viel riskantere Zustände kippen.

Als 1991 das große Darwin-Jahr gefeiert wurde, nahmen das die Taxonomen - also die Spezialisten für die systematische Benennung und Registrierung von Arten - zum Anlass, eine weitere Zwischenbilanz der Klassifizierung und Registrierung der Spezies auszuarbeiten. Auch damals hat Robert May das Ergebnis in der Zeitschrift "Science" kommentiert. Er widmete sich dabei explizit der Unsicherheit der Daten und ging im Besonderen auf den Missbrauch unsicherer Daten - vor allem bei den Angaben zum Artensterben - ein. Damals hatte die Internationale Union für Naturschutz (IUCN) lauthals proklamiert, dass 20 Prozent aller Säugetiere und 12 Prozent aller Vögel ernsthaft vom Aussterben bedroht seien.

Verschiedene Arten sind allerdings nur in sehr unterschiedlichem Ausmaß bekannt und registriert worden. Im Jahr 1991 waren wahrscheinlich 90 Prozent aller Pflanzen erfasst. Gut steht es auch um die Registrierung aller Vögel und Säugetiere, schon etwas weniger gut um die anderen Wirbeltiere. Das ganz große Problem sind die Insekten. Auf der Roten Liste der IUCN fand man dann 1991 unter den bereits registrierten Arten nur 0,06 Prozent der Insekten, die man damals aufgrund mehr oder minder fragwürdiger Extrapolationsmethoden für existent ansah.

Insgesamt - so vermutete man 1991 - lebten zwischen 3 und 100 Millionen eukaryotische Spezies. Alle Angaben über das Artensterben und seinen Zuwachs hängen jedoch von mit großer Unsicherheit behafteten Vermutungen ab, wenn man sie in Prozent der vermutlich heute noch lebenden Arten ausdrückt. Derart erhält man zwar extrem beindruckende, aber auch extrem irreführende Zahlen, die als Basis für Schuldzuweisungen unbrauchbar sind.

Alle diese Unsicherheiten ändern selbstverständlich nichts an der Realität des Artensterbens und des zu erwartenden Zuwachses in der Zukunft.

Vor Kurzem hat eine in Kanada, England und den USA arbeitende Gruppe von Experten eine neue und mit einer neuartigen Methode erarbeitete Inventurbilanz der Artenvielfalt veröffentlicht, die im Internet zugänglich ist. Die Veröffentlichung besteht eigentlich aus zwei Teilen. Der erste Teil ist ein sehr informativer, kritischer Bericht über die Methoden, mit denen man vorher die Gesamtzahl der Spezies abzuschätzen versuchte. Andere Experten bewerten diesen jüngsten Versuch aus methodischen Gründen wiederum sehr kritisch. Lord May hat dazu wieder einen Kommentar veröffentlicht.

Lord May, der im Gegensatz zu anderen Stimmen die jüngste Studie positiv bewertet, merkt an, dass er sein Geld auf ungefähr fünf Millionen lebende eukaryotische Spezies setzen würde, wenn er gezwungen wäre, zu wetten.

Realitätsnahe Kenntnis

Dem jüngsten Inventurversuch nach leben heute 8,7 Millionen (mit einem Standardfehler von plus/minus 1,3 Millionen) eukaryotische Arten auf der Erde; davon 2,2 Millionen plus/minus 0,18 Millionen in den Ozeanen.

Eine realitätsnahe Kenntnis der Biosphäre und ihrer Veränderungen ist keine akademische Schrulle. Schließlich bestimmen sie das Ausmaß, in dem die Biosphäre menschliches Leben unterstützen kann. Zur Jahrtausendwende hat man im Rahmen des "Millennium Ecosystem Assessment" 24 verschiedene Beiträge der Biosphäre unter die Lupe genommen - also Serviceleistungen der Biosphäre bei der Schaffung von Umweltbedingungen, die menschliches Leben erst möglich machen. Man identifizierte 24 solche Serviceleistungen und fand, dass 15 davon zur Zeit bereits beeinträchtigt sind oder in einer nicht nachhaltigen Art ausgebeutet werden. Die restlichen fünf konnten nicht bewertet werden, weil ihre Zusammensetzung und funktionale Struktur nicht hinreichend genau bekannt sind.

Die Suche nach der benötigten zusätzlichen Information liefert immer wieder auch goldene Funde. So etwa, als Yuan Longping, der "Vater des Reises", 1970 eine neue wildwachsende Variante von Reis entdeckte, die sich als eine Art genetischer Schatz entpuppte. Sie lieferte durch Kreuzung mit der herkömmlichen Art eine neue Reispflanze mit um 30 Prozent höherer Effizienz.

1200 Jahre Forschung

Taxonomen haben - der jüngsten Veröffentlichung nach - in 250 Jahren nur ungefähr 14 Prozent der an Land lebenden Arten und neun Prozent der Meeresarten in einem 1,2 Millionen umfassenden zentralen Datenregister erfassen können. In den letzten 20 Jahren sind pro Jahr 6200 Spezies (Standardfehler plus/minus 811 neu registrierte Spezies) ins Register aufgenommen worden. Wenn das in diesem Tempo weiterginge, würde man noch 1200 Jahre brauchen, um die Wissenslücken zu schließen.

Die Geschwindigkeit des Artensterbens liegt heute bei dem Hundert- bis Tausendfachen der natürlichen Aussterberate. Es wird daher wahrscheinlich Spezies geben, die schon aussterben, bevor die Taxonomie sie wissenschaftlich zur Kenntnis nehmen konnte.

Diese Spezies selbst werden wenigstens darunter nicht leiden. Ihre Bedeutung liegt in der funktionalen Rolle, die sie in der Servicefunktion für eine den Menschen zuträgliche Umwelt spielen.

Aber vielleicht sind solche Gedanken schon wieder ein Symptom einer anthropozentrischen Sicht der Biosphäre, die für extrem umweltethisch motivierte Kommentatoren nicht verantwortbar ist.

Literatur.
Camilo Mora, Derek P. Tittensor, Sina Adl, Alastair G.B. Simpson, Boris Worm: How Many Species are There on Earth and in the Ocean?

PLOS Biology Vol.9, Issue 8, August 2011. e1001127

Robert May, Paul Harvey: Species Uncertainties. Science, 6. Februar 2009.

Robert May: Why worry about how many Species and their Loss? PLOS Biology Vol.9, Issue 8, August 2011. e1001130.

Robert May, Simon A. Levin, George Sugihara: Complex System. Ecology for Bankers.

Robert May: Uses and Abuses of Mathematics in Biology. Science 303, 790 (2004)

Peter Markl unterrichtete an der
Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der
Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für
Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des
Europäischen Forums Alpbach.