Der ehemalige IRA-Kämpfer Anthony McIntyre glaubt nicht an ein Wiederaufflammen des Nordirlandkonflikts bei der Rückkehr einer harten Grenze zu Irland. Die heutige IRA hält er für infiltriert und unfähig.
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Belfast/Dublin. Ein Geist geht um in Europa. Kommt es zu einem chaotischen Brexit, so die Sorge, dann könnte der Konflikt in Nordirland wieder aufflammen. Eine harte Grenze zwischen dem EU-Land Irland und der britischen Provinz im Norden weckt Erinnerungen an alte Zeiten. Rund 3500 Menschenleben forderte der blutige Bürgerkrieg zwischen britischen Protestanten (Unionisten) und irisch-nationalistischen Katholiken (Republikaner), zwischen 1969 und 1998. Erst mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 zwischen Irland, Nordirland und Großbritannien fand die Gewalt ein Ende. Seither teilen sich Katholiken (Sinn Féin) und Protestanten (DUP) die Macht im nordirischen Parlament.
Nach dem Karfreitagsabkommen gaben die IRA und unionistische Paramilitärs zwar nach und nach die Waffen ab, doch Splittergruppen existieren bis heute. Erst am Wochenende verübte die "New IRA" einen Autobombenanschlag im nordirischen Derry.
Der Konflikt prägt das Land bis heute. Zwar gibt es mittlerweile auch so etwas wie eine nordirische Identität, doch die Bevölkerung ist großteils gespalten zwischen (irischen) Katholiken und Protestanten, die sich häufig als Briten sehen. Rund 90 Prozent der Kinder besuchen nach Konfessionen getrennte Schulen; die Hauptstadt Belfast ist durchzogen von sogenannten "Peace Walls", die katholische von protestantischen Vierteln trennen. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem ehemaligen IRA-Mann Anthony McIntyre über die Gefahr eines neuen Konflikts, die aktiven IRA-Splittergruppen und die Möglichkeit eines wiedervereinigten Irlands.
"Wiener Zeitung": In Europa herrscht Angst vor einem Wiederaufflammen des Konflikts in Nordirland bei einem No-Deal-Brexit und der Rückkehr einer Grenze zum EU-Land Irland. Ist die Sorge berechtigt?
Anthony McIntyre: Die Spannungen werden steigen - zwischen der irischen Regierung und der britischen. Das wird aber nicht zu neuen Gewaltkampagnen führen. Jene, die Interesse daran haben oder sich davon angesprochen fühlen, sind militärisch völlig unfähig, das haben sie eben in Derry wieder unter Beweis gestellt. Es gibt sehr wenige Sympathisanten für solche Aktionen und auch die Mittel dieser Leute sind äußerst begrenzt. Viele irische Republikaner heißen den Brexit willkommen. Sie glauben an ein anti-imperialistisches Narrativ und sehen den EU-Austritt als Durchsetzung der britischen nationalen Unabhängigkeit gegen eine super-imperialistische Institution. Das ist ein Dilemma, ein Widerspruch, denn den englischen Nationalismus können sie eigentlich nicht unterstützen.
Ist also alles nur Angstmache?
Bei der Erzählung darüber, dass der Friedensprozess in Gefahr ist, ist viel Panikmache dabei. Die Polizei und schlecht informierte Journalisten sowie manch sogenannter Experte malen ein falsches Bild. Diese Leute werden bezahlt für ihre Kolumnen, sie erzählen eine gute Geschichte, die allen Angst macht. So verkaufen sich Zeitungen. Dabei ist die eigentliche Frage der wirtschaftliche Schaden. Erinnern wir uns daran, wie toll so eine harte Grenze für Schmuggler ist!
Aber bewachte Grenzposten sind doch das perfekte Ziel für die IRA-Splittergruppen - egal, wie inkompetent sie sind!
Was könnte selbst die kompetenteste IRA-Einheit an der Grenze anrichten? Die Polizei wird nicht so dumm sein und sich hier exponieren. Sie werden kein einfaches Ziel sein. Wir wissen nicht, was passiert, wenn die wirtschaftlichen Fakten greifen, wenn man erkennt, was das für die Leute in Irland heißt. Sicher ist: Sie werden nicht der IRA in die Arme laufen, um gegen die Briten und den Brexit zu kämpfen.
Es gibt allerdings immer noch Verrückte, die zu Anschlägen bereit sind, wie wir eben in Derry gesehen haben.
Ja, die gibt es, ob mit oder ohne Brexit.
Könnten diese Splittergruppen sich durch eine Grenze mit Kontrollposten und viel Polizeiaufgebot provoziert fühlen?
Nicht mehr, als sie sich ohnehin schon provoziert fühlen. Diese Leute tun bereits alles, wozu sie fähig sind - und das ist nicht viel. Wird es in Nordirland eine Rebellion gegen die Briten geben wegen dem Brexit? Das glaube ich nicht. Werden die Menschen der IRA in die Arme laufen wegen dem Brexit? Nein. Die Fähigkeiten der Dissidenten sind äußerst begrenzt. Sinn Féin ist die stärkste Kraft in Nordirland unter der irischen Bevölkerung. Die Partei bestimmt den Anti-Brexit-Diskurs in Nordirland und die meisten finden, dass sie das gut machen.
Die IRA braucht also keinen harten Brexit für neue Gewaltaktionen. Aber was ist mit den Katholiken in Nordirland, die sich als Iren fühlen? Der Brexit, den sie nie wollen, kapselt sie von Irland ab. Verlieren sie dadurch einen Teil ihrer Identität?
Ja, es käme zu sektiererischen Spannungen und zu einem Identitätsverlust. Die Menschen in Nordirland identifizieren sich mehr und mehr mit der Regierung in Dublin, die sie aufrufen, sich für sie einzusetzen. Wir sollten aber nicht ständig Kaffeesud lesen. Die harten Fakten werden sich noch zeigen. Erst, wenn die Wirtschaft reagiert, wissen wir, was passiert. Ich sehe jedenfalls keine Gewaltkampagne als Folge eines Brexit.
Woher kommt dann die Angst?
Die Sicherheitskräfte brauchen einen Teufel, den sie bekämpfen können. Den müssen sie größer und gefährlicher aussehen lassen, als er ist. Die Menschen müssen davon überzeugt werden, dass er eine Bedrohung für sie darstellt und man etwas gegen ihn unternehmen, dass man ständig achtsam sein muss. Die Real IRA oder die New IRA und wie sie alle heißen existieren nur, weil die Sicherheitskräfte sie ins Leben gerufen haben. Wir wissen, dass die Sicherheitskräfte in einer Menge von IRA-Aktivitäten involviert waren, die ohne sie gar nicht stattgefunden hätten. Zum Beispiel wurde die Real-IRA-Einheit in Ballymena in Country Antrim de facto von Sicherheitskräften betrieben.
Die IRA war auch in Zeiten des Nordirlandkonflikts von Polizei und Geheimdienst infiltriert, aber dermaßen?
Selbst, wenn man nicht sicher ist, wer genau nun ein Spitzel ist: Sieht man sich die Inkompetenz dieser Organisationen an, vergleicht man sie mit der Provisional IRA (die "Provos" waren während des Nordirlandkonflikts aktiv, Anm.), dann erkennt man, dass Letztere viel kompetenter waren als diese Burschen. Auch die Sicherheitsvorkehrungen der Provos waren nichts Besonderes. Aber diese Typen sind noch inkompetenter und in infiltrierter, als es die Provisional IRA je war.
Die Provos hatten auch mehr Unterstützung in der Bevölkerung. . .
Die Unterstützung war weitverbreitet. Das lag aber nicht etwa daran, dass es damals eine gut bewachte Grenze gab. Es war nicht einmal die Anwesenheit der Briten in Irland, sondern es war die Art und Weise, wie sich die Briten in Irland verhielten. Deshalb mussten sie auch nicht verschwinden, um den Frieden wiederherzustellen. In den Augen der irischen Bevölkerung Nordirlands mussten sie sich einfach benehmen, und das taten sie mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens.
Apropos Karfreitagsabkommen: Eine Menge Leute, vor allem Republikaner in Irland, hoffen darauf, dass der Brexit am Ende zu einem wiedervereinigten Irland führt. Sie sagen, die britischen Tories haben in zwei Jahren mehr dafür getan als die IRA in den vergangenen Jahrzehnten.
Das stimmt, sie haben viel dafür getan. Die IRA-Kampagne für ein vereintes Irland ist misslungen. Nur die Nordiren können den Anstoß zur Wiedervereinigung geben (im Karfreitagsabkommen ist festgeschrieben, dass sich der Norden an die Republik anschließen kann, wenn sich eine Mehrheit der Wähler dafür ausspricht, Anm.). Die Mehrheit der katholischen Nationalisten in Nordirland will aber Teil der Union mit Großbritannien bleiben auf der Basis von Gleichberechtigung. Diese Menschen sind bei einem Referendum entscheidend. Würden sie ein vereintes Irland wollen, dann könnten sie die Leute mobilisieren. Im Gegensatz zu den irischen Nationalisten, die sich nie einig waren in dieser Frage, sind die britischen Unionisten ein monolithischer Block. Sie stehen geschlossen gegen Dublin - noch mehr als gegen Brüssel. Zieht man das in die Frage nach dem Ausgang eines Referendums über eine Wiedervereinigung mit ein, ist klar: Es würde scheitern.