Neue Verfassung droht Konflikte noch mehr anzuheizen. | 15,5 Millionen Iraker zu Abstimmung aufgerufen. | Bagdad. Unter einem Höchstaufgebot von Sicherheitsvorkehrungen stimmen heute, Samstag, rund 15,5 Millionen Iraker in 6.235 Wahlbüros über ihre neue Verfassung ab, über deren endgültige Version bis in die letzten Tage gerungen wurde. Seit Freitag sind die Grenzen für alle Fahrzeuge geschlossen. Ausnahmen gibt es nur für Nahrungsmittel- und Wassertransporte sowie Tankfahrzeuge. Auch der internationale Flughafen von Bagdad bleibt bis Sonntagabend geschlossen und der Verkehr zwischen den Provinzen wird bis Sonntagmorgen ruhen.
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Seit der Vorlage des ersten Verfassungsentwurfs Ende August haben täglich blutige Anschläge mit zahllosen Opfern das Land erschüttert. Die Hoffnung, dass durch die Verfassung die Gegensätze zwischen den Volksgruppen ausgeglichen werden könne, ist bisher nicht aufgegangen. Viele befürchten, dass die Verfassung, wenn sie in der vorliegenden Form Wirklichkeit wird, die Konflikte noch weiter anheizen werden.
Drei Provinzen können die Verfassung kippen
Der Verfassungsentwurf gilt als abgelehnt, wenn in drei Provinzen zwei Drittel der Wähler ihm nicht zustimmen. Die Sunniten, die sich durch die geplante Verfassung vehement benachteiligt sehen, stellen in vier Provinzen im Zentralirak die Mehrheit. Ein Versuch des neuen Parlaments, diese Tatsache zu unterlaufen, indem man die Mehrheit aufgrund der Wahlberechtigten und nicht der tatsächlichen Wähler festlegen wollte, musste nach internationalen Protesten wieder aufgegeben werden. Jetzt hat das Parlament in letzter Minute durch eine leichte Abänderung des Entwurfs versucht, doch noch einen Teil der Sunniten für die Annahme zu gewinnen. So hat man etwa in den Verfassungsentwurf die Feststellungen aufgenommen, dass die Verfassung eine Garantie für die Einheit des Landes sein solle. Außerdem soll das im Dezember zu wählende neue Parlament in einer viermonatigen Frist Empfehlungen für weitere Abänderungen vorlegen, über die dann noch einmal ein Referendum stattfinden soll. Als Zugeständnis an die Sunniten gilt auch der Zusatz, dass die bloße Mitgliedschaft in der Baath-Partei kein Grund für eine Verfolgung ist.
Daraufhin hatte am Mittwoch die islamische Partei, die wichtigste Vertretung der Sunniten im derzeitigen Parlament, aufgerufen, für die Verfassung zu stimmen.
Sunniten sehen sich stark benachteiligt
Allerdings war die Parlamentswahl im Jänner von den Sunniten weitgehend boykottiert worden. Das dürfte sich nach der Meinung politischer Beobachter bei der Abstimmung über die Verfassung aber nicht wiederholen. Die Sunniten, die zwischen den Kurden im Norden des Landes und den Schiiten im Süden nur mehr eine Minderheitenrolle spielen, wollen massiv gegen die von diesen beiden Bevölkerungsgruppen ausverhandelte Verfassung votieren.
Die Sunniten, die - obwohl sie nur etwa ein Fünftel der irakischen Bevölkerung stellen - unter Saddam Hussein im Irak die führende Rolle gespielt haben, kritisieren vor allem, dass sie vom Ölreichtum im Norden und im Süden des Landes abgeschnitten und wirtschaftlich extrem geschwächt werden.
Die US-Besatzer haben in den letzten Tagen massiv für die Teilnahme am Referendum und die Annahme der Verfassung geworben. Obwohl alles den Anschein haben soll, dass es sich bei dem Referendum um eine rein innerirakische Angelegenheit handelt, haben US-Militärs in den sunnitischen Provinzen beträchtliche Mittel für den Bau von Wahllokalen und die Sicherheitsvorkehrungen aufgewendet. Für die Amerikaner hängt vom Ausgang des Referendums viel ab, kommt doch ein Truppenabbau, den immer mehr US-Bürger fordern, nur dann in Frage, wenn sich die Lage im Irak entspannt. Ob dies durch das Verfassungsreferendum der Fall ist, wird aber von vielen bezweifelt. Und der in der kommenden Woche beginnende Prozess gegen Ex-Diktator Saddam Hussein könnte weiterer Sprengstoff im labilen Gefüge des Landes sein.