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Schiitische Milizen werden von der Zentralregierung in Bagdad derzeit als Speerspitze im Konflikt mit den Kurden eingesetzt.
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Kirkuk. Ihre eigentlichen Ziele hüllen diese Männer am liebsten in Phrasen. Es ginge ihnen um "die Zukunft des Iraks, für die sie kämpfen". Auch von einer Veränderung der Gesellschaft ist die Rede. "Wir sind Revolutionäre", fasst es Thrab Jaber knapp zusammen, der in einer abgetragenen Camouflage am Rande der nordirakischen Stadt Kirkuk Wache hält. Nicht nur um diese Stadt oder eine andere zu kontrollieren, sondern um solche ganz großen Aufgaben gehe es ihm in seinem Kampf: Um Freiheit für den Irak zu ermöglichen; vor allem aber sei es ein Gebot seines Glaubens, zu den Waffen zu greifen.
Freiwillige wie er sind in einen Krieg gezogen, der 2014 mit der Verteidigung des Iraks gegen die Milizen der Terrororganisation "Islamischer Staat" begonnen hatte. Doch seit einem Monat hat der "Feind" ein neues Gesicht: die kurdischen Milizen, die Peschmerga. In der aktuellen Eskalation im Norden des Iraks spielen einfache Bürger, die Waffen tragen wie Thrab Jaber, eine Schlüsselrolle. Mit Flaggen, die schiitische Heilige zieren, schweren Ringen, die sie von Pilgerfahrten mitgenommen haben, und Uniformen aus zweiter Hand, meist ohne Schutzkleidung auch bei scharfem Feuer, ziehen sie in ihre Schlachten.
Haschd al-Schaabi - "Volksmobilisierungsmilizen" - nennen sich diese Milizverbände, in die sich Jaber und mit ihm weitere geschätzte 140.000 Irakis eingereiht haben. Ali Husjan, etwa, er ist erst 18, stammt aus Nadschaf und zählt auch zu dieser Volksarmee. "Ich bin 48 Stunden gefahren, bis hierher nach Kirkuk", um zu kämpfen. Für die "Einheit des Iraks", wie er betont.
Der lange Arm Teherans
Als Speerspitze der irakischen Zentralregierung besetzen diese Einheiten seit Montag Amtsgebäude in der umstrittenen Stadt Kirkuk, Ölfelder. Dazu haben weitere Truppen aus dem Bündnis am Dienstag das Sindschar-Gebirge übernommen. "Wir sind jetzt faktisch im Kriegszustand mit der Haschd al-Schaabi," verkündete am Montag Jaafar Mustafa, Kommandant der 70. Peschmerga-Einheit, die in Kirkuk stationiert war. Obwohl die zentralirakische Regierung auch Eliteeinheiten der Armee in die Stadt und die ölreiche Provinz entsandt hatte, gilt also diese "Volksarmee" als der eigentliche Feind aus Sicht der Kurden: Dies illustriert die neuen Konfliktlinien im Irak, die nahtlos von einem Krieg in den nächsten führen.
Denn im Kampf gegen den "IS" sind neue Machtblöcke wie diese Volksarmee hochgerüstet worden, die nun den Irak und mit ihm die gesamte Region massiv verändern. "Wir haben alle den gleichen Sold", sagt Abu Achamd al Assaf, der sich um die Medienarbeit der Haschd al-Schaabi kümmert: "Umgerechnet 400 Dollar pro Monat. Der Kommandant, der Koch, ein einfacher Kämpfer und jemand wie ich." Zuvor habe er 6000 Dollar im Monat verdient. Doch es gehe eben nicht ums Geld, sondern um Visionen. Von diesen bekommt man in den Quartieren eine Ahnung: Fotos von Irans Revolutionsführer Ruhollah Chomeini prangen an den Wänden, von seinem Nachfolger Ali Chamenei sowie vom obersten Schiiten-Führer des Iraks, Ali al-Sistani.
Und auch ganz klare Anweisung gibt es da für die Reporterin. Ein Kopftuch wird im Kriegsgebiet nicht erwartet: "Aber die Beine dürfen Sie nicht übereinanderschlagen", sagt er. Eine klare Geste, die mehr Einblick verleiht als die vorformulierten Public-Relation-Standardphrasen.
Insgesamt sechzig solcher "Haschd"-Einheiten gibt es, und abgesehen von vereinzelten Ausnahmen handelt es sich dabei ausschließlich um Schiiten, die zwei Drittel der irakischen Bevölkerung stellen. Mindestens drei Milliarden Euro soll der Iran in den Aufbau dieser irakischen Schattenarmee gepumpt haben. Orchestriert hat den Aufbau der Milizen Qassem Solimani, der Boss der sogenannten "al-Quds"-Brigaden. Dies ist der Auslandsflügel der iranischen Revolutionsgarden; eine paramilitärische Einheit, die direkt den Weisungen des spirituellen Führers des Irans unterliegt.
Der künftige Bauplan ist offensichtlich: Ein Export dieses Konzepts von paramilitärischen Einheiten am Beispiel der Revolutionsgarden in den Irak und weiter nach Syrien bis hin zum längst eingeschlagenen Pflock im Libanon, der dortigen Hezbollah, soll den Iran als regionale Großmacht einzementieren. Einzelne Kämpfer dieser Paramilitärs wechseln zwischen all diesen Fronten und Qassem Solimani zieht die Fäden von Damaskus bis Bagdad. "Es ist ein schiitischen Dschihad, der sich über viele Grenzen erstreckt", formuliert es Abu Ali Beg, Kommandant der "Schadi al-Sadr"-Brigade aus dem Bündnis der Haschd. Viele seiner Kämpfer, erzählt er, waren auch in Syrien im Krieg.
Im Juni 2014 startete im Irak der Aufbau dieser Volksarmee. Die Fäden zog der damalige Premierminister Nouri al-Maliki, dessen enge Kontakte zu Teheran Legende sind. Sieben bereits bestehende Milizen des Innenministeriums bildeten das Fundament, die ideologische Basis eine Fatwa des spirituellen Führers Sistani. Er rief einen "gerechten Dschihad" aus und rief alle Bürger des Iraks zu den Waffen, um "Bagdad und die Einheit des Iraks zu verteidigen".
Diese "Fatwa", die eilige Mobilisierung von Freiwilligen, war zu diesem Zeitpunkt eine Reaktion auf den Blitzkrieg der Terrormiliz "Islamischer Staat". Binnen Wochen gelang der Gruppe, zum Teil mit Unterstützung sunnitischer Clans, ein Drittel des Iraks einzunehmen. Bei der Rückeroberung spielten in den folgenden Jahren die "Haschd al-Schaabi"-Milizen neben und vor allem gemeinsam mit den kurdischen Peschmerga eine zentrale Rolle. Die Befreiung der Städte Tikrit, Falludscha und Ramadi, später Mossuls und in den vergangenen Wochen der Region westlich Kirkuks gelang zum Teil nur, weil diese zahlenmäßig starke Miliz zum Einsatz kam; Iraks Armee hatte sich anfangs als völlig hilflos erwiesen.
"Irak wurde zur Theokratie"
Doch der Feldzug der "Haschd" hinterließ tiefe Gräben. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch dokumentierten Kriegsverbrechen, die von diesen Milizen in den befreiten Städten begangen wurden. So wird der Gruppe das Verschwinden von hunderten Männern vorgeworfen.
Doch auch der neu eingesetzt irakische Premier Haider al-Abadi setzte auf die wachsende Machtbasis dieser Truppe: 2015 stellte er sie unter sein direktes Kommando und im November 2016 wurden sie regulärer Teil der neu formierten irakischen Sicherheitskräfte: Neben der "Bundespolizei" und der Armee samt ihren von den USA trainierten Sicherheitskräften wurden die "Haschd" als dritter Pfeiler regulär installiert.
Und als sich Kurdistans Präsident Masoud Barzani 24 Stunden vor Abhaltung des Referendums über die Unabhängigkeit seiner Region internationalen Reportern stellte, stellte er zu Beginn unmissverständlich klar: "Der Irak ist eine religiöse Diktatur geworden. Eine Theokratie." Mit diesem System habe man nichts mehr gemein.
Und so waren die sich anbahnenden Fronten des nächsten Irak-Krieges an diesem fürchterlich heißen Sonntag, dem 24. September 2017, mit freiem Auge bereits auszumachen. Auch wenn der Tag danach ruhig verlief.
Weil selbst in Kirkuk über die Unabhängigkeit abgestimmt wurde, ist der Konflikt ausgebrochen - und nur einen Monat später sind fast alle Gebiete, die von kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den "IS" befreit wurden und nicht eigentliches Kerngebiet der Kurden sind, formal unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung und faktisch in Händen der schiitischen Milizen, die für einen ganz neuen Irak Pate stehen.