Brüssel - Das Aufatmen in der EU war hörbar. Schon nach den ersten Teilresultaten aus sieben von 42 Wahlkreisen Irlands sprach Kommissionspräsident Romano Prodi am Sonntag von einem "grünen Licht für die Erweiterung". Das "Jahrhundertprojekt" der Union, nämlich die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern 2004 und zwei weiteren bis 2007, ist damit wieder auf Schienen. Bis der Zug seinen Endbahnhof erreicht, bleiben aber noch manche Hindernisse zu entfernen.
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Mit der mutmaßlichen Zustimmung der Iren zum Vertrag von Nizza haben nun alle 15 Mitgliedstaaten der Union jenem Abkommen ihre Zustimmung erteilt, das die Gemeinschaft erweiterungsfähig machen soll. Alle neuen Staaten sollen ab dem Zeitpunkt ihres Beitritts einen EU-Kommissar stellen dürfen, und damit im wichtigsten Gremium der Union vertreten sein. Um die Kommission aber nicht handlungsunfähig zu machen, wird die Höchstzahl der Kommissare begrenzt. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien müssen ab 1. Jänner 2005 auf einen ihrer beiden Kommissare verzichten.
Außerdem sieht der Vertrag von Nizza eine Neuverteilung der Stimmgewichtung im Rat vor. Ist heute eine "qualifizierte Mehrheit" mit mindestens 62 von 87 Stimmen gegeben, so wird diese in einer EU mit 27 Mitgliedern 225 von 345 Stimmen betragen. Den neuen Mitgliedern werden ihre Stimmen im Rat entsprechend ihrer Bevölkerungsgröße zugeteilt. So erhält Polen, mit 38 Millionen Einwohnern künftig der sechstgrößte Mitgliedsstaat der EU, 27 Stimmen. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien haben jeweils 29, Spanien 27 Stimmen. Österreich bekommt zwölf Stimmen, genauso viele wie Ungarn und Tschechien.
Mehrheitsentscheidungen
Für eine Entscheidung im Rat soll künftig außerdem auch eine Staatenmehrheit erforderlich sein, d.h. mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung müssen - vertreten durch die Staaten - zustimmen. Mit einer Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen gegenüber jenen Voten, bei denen Einstimmigkeit erforderlich ist, soll das Gremium mehr Handlungsfähigkeit gewinnen. Die Zahl der Abgeordneten im Europaparlament wird von 626 auf 732 vergrößert, wobei ebenfalls nationale Größen festgelegt werden.
Der nach tage- und nächtelangem Ringen ausgehandelte Vertrag von Nizza wurde im Vorfeld der Volksabstimmung in Irland als "conditio sine qua non" für die Erweiterung bezeichnet. In der Praxis ist er aber bis heute heftig umstritten. So regelt er die Funktionsfähigkeit einer EU mit 27 Mitgliedern, im Zuge der Erweiterung wird die Union 2004 zunächst erst auf 25 Staaten anwachsen. Einzelne Beitrittsländer wie vor allem Ungarn sind noch mit denen ihnen zugeteilten Parlamentssitzen und Ratsstimmen unzufrieden.
Die größten Hindernisse für die Erweiterung - und das wird nach Irland bereits in den kommenden Tagen in Brüssel ganz klar werden - bestehen aber immer noch unter den heutigen EU-Staaten. Weiterhin gibt es keine gemeinsame Verhandlungsposition in den beiden entscheidenden offenen Fragen, nämlich Landwirtschaft und Finanzen.
Am 24. und 25. Oktober soll dazu in Brüssel die Entscheidung auf einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs fallen. Wie ein Kompromiss aussehen könnte, steht in den Sternen. Nicht zu Unrecht wurde in den letzten Tagen spekuliert, dass einigen Staaten ein Nein der Iren gar nicht so unrecht sein könnte.
Gegen Direktzahlungen
Weiterhin sind Deutschland, Großbritannien, Schweden und die Niederlande strikt gegen Direktzahlungen an die neuen Mitgliedsstaaten. Die Position Den Haags ist durch den Sturz der Regierung allerdings geschwächt.
In Österreich hat sich Finanzminister Karl-Heinz Grasser wiederholt gegen Direktzahlungen ausgesprochen, Regierungslinie ist dies allerdings nicht. Dafür hat Wien immer noch Vorhalte im Zusammenhang mit den Benes-Dekreten und dem Transitverkehr. Für eine pünktliche Ankunft am Endbahnhof wird der Erweiterungszug daher in den nächsten Wochen ein enormes Tempo einschlagen müssen.
Aus einem Bummelzug wird noch ein Eurostar werden müssen, damit Mitte Dezember in Kopenhagen endgültig jenes grüne Licht für die Erweiterung gegeben werden kann, das Prodi bereits am Sonntag sah. Mit einem Entgleisen des Zugs wird aber nicht mehr gerechnet.