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Irrational oder exzellent durchdacht?

Von Walter Hämmerle

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Am 7. Juni ist die EU-Wahl - und alle reden über einen Türkei-Beitritt. Seltsam, und doch auch wieder nicht.


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Mit kühlem Kopf lässt sich in der Politik selten etwas bewegen, schon gar nicht lassen sich damit Stimmen gewinnen. Da gilt es schon tiefere Körperregionen anzusprechen - zu denen durchaus auch das Herz gehören kann, aber keineswegs muss.

Womit wir bereits beim Thema wären: nämlich bei der Frage, ob die Türkei überhaupt je Mitglied der Europäischen Union werden können soll. Die Angelegenheit hat sich zur europapolitischen Gretchenfrage schlechthin entwickelt, auf die am besten jeder Gemeindefunktionär noch im Schlaf die entsprechende Antwort parat haben sollte.

Aber ist die Positionierung einer Partei in der Türkei-Frage für die Wähler am 7. Juni tatsächlich von entscheidender Bedeutung?

"Nein", ist Meinungsforscher Peter Ulram (GfK Austria) überzeugt. "Dass eine deutliche Mehrheit der Österreicher gegen einen EU-Beitritt der Türkei ist, ist nichts Neues. Für mich ist es aber rational nicht nachvollziehbar, dass jetzt die ÖVP mit Ernst Strasser auf dieses Thema setzt. Das ist eine reflexartige Bauchentscheidung, die nur darauf hinausläuft, ein Kernthema der Freiheitlichen zu übernehmen."

Und warum setzt sich dann auch die SPÖ in der Person von Klubchef Josef Cap auf die freiheitliche Positionierung - kein Beitritt, Abbruch der Verhandlungen? Ulram: "Das war wohl ebenfalls eine reflexartige Bauchentscheidung auf die Reaktion der ÖVP hin - offensichtlich hat auch die SPÖ Angst, mit dem Thema Türkei-Beitritt in Verbindung gebracht zu werden."

Diametral entgegengesetzt ist die Interpretation von Wolfgang Bachmayer (OGM). Strassers Positionierung - kein Beitritt, Einfrieren der Verhandlungen - sei ein geradezu "exzellent durchdachter und inszenierter Schritt". Dass er damit im Widerspruch zur offiziellen Parteilinie - ergebnisoffene Verhandlungen, Beitritt nur nach Volksabstimmung - stehe, wertet Bachmayer als Beleg für Strassers Führungsstärke.

Die Frage eines Türkei-Beitritts sieht er dabei längst der Ebene eines bloßen Wahlkampfthemas enthoben: Sie sei zu einer Grundsatzfrage geworden, vergleichbar mit der Haltung zu Neutralität, Atomkraft oder Gentechnik. Ihnen allen gemein ist die Tatsache, dass sich jeder Einzelne - ungeachtet aller Partei-Loyalitäten - einem Ja oder Nein verschrieben hat. Rationale Argumente spielen dabei nicht immer die wichtigste Rolle.

Wie Ulram, aber gegen Bachmayer, hat auch Günther Ogris (Sora) Zweifel am übermächtigen Einfluss der Türkei-Frage auf das Ergebnis dieser EU-Wahl: "Bei den meisten Wahlen kommen immer mehrere Motive zusammen. Das eine große, alles entscheidende Motiv gibt es in der Regel nicht."

Mehr Zugkraft hat für Ogris da das Thema Zuwanderung. Über genau diesen Umweg - und damit zusammenhängende Ressentiments - würden es jedoch manche Parteien schaffen, das Thema Türkei-Beitritt mit ins Spiel zu bringen. Unschwer zu erraten, wen Ogris da im Auge hat.