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Irrationale Angst

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Selbstverständlich ist für hochrangige Personen Schutz wichtig. Aber die USA hat nach den 9/11-Anschlägen eine Sicherheitsmanie erfasst, die mittlerweile bizarre Formen annimmt.


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Es war ein bestürzender Anblick: Vor einem Friseurgeschäft in meiner Nachbarschaft standen letzte Woche vier stämmige Männer mit diesen typischen Knöpfen im Ohr und den unförmigen Anzügen, die sie für alle leicht erkennbar als Sicherheitspersonal auswiesen. Im Geschäft war FBI-Chef Robert Mueller.

Vielleicht braucht der FBI-Direktor im heutigen Washington beim Haareschneiden tatsächlich einen Sicherheitstrupp. Ich habe da allerdings meine Zweifel. Der große Auftritt seiner Bodyguards zog doch die Aufmerksamkeit erst so richtig auf ihn. Beim Lebensmittelhändler über der Straße war er das Gesprächsthema. "Wer ist da drüben beim Friseur?" - "Na, dieser FBI-Mann, wie heißt er noch gleich .. .?" - "Das gibt´s doch gar nicht!" Und die Leute rannten auf die Straße, um sich das anzusehen.

Selbstverständlich ist es wichtig, diejenigen zu schützen, die öffentliche Ämter innehaben. Aber wir sind in den USA in Sicherheitsfragen mittlerweile so durchgedreht, dass sich manche von ihnen nur noch in einem Kokon fortbewegen, als ob sie andauernd von Bedrohungen verfolgt würden. Wovor sollen sie beschützt werden? Al-Kaida? Hisbollah? Verrückten? Enttäuschten Wählern? Oder ist es etwas Ungreifbares - ein namenloses, alles durchdringendes Gefühl der Gefahr?

Was ich beim Friseur erlebt habe, war nur ein kleines Beispiel für die allgemeine Sicherheitsmanie, die das Land nach dem 11. September 2001 erfasst hat. Dazu hätte ich einen Vorschlag. Heuer jähren sich die 9/11-Terroranschläge zum achten Mal: Sollten wir nicht bei dieser Gelegenheit unseren "Paranoiameter" etwas zurückdrehen?

Das Hyper-Sicherheitsgetue hat nicht nur mehr öffentliche Sicherheit gebracht, sondern auch sehr viel mehr Angst und Verärgerung. Offenbar sieht man gar nicht mehr, wie bizarr die Sicherheitsvorkehrungen auf den Flughäfen der USA heute sind: Da werden alte Damen, schwangere Mütter und achtjährige Kinder aufs Strengste untersucht, als ob sie gerade aus Waziristan eingeflogen wären. Ergibt das einen Sinn?

Andere Werte, wie Offenheit und Privatheit, fegt die Sicherheitskultur hinweg. Man kann heute kaum noch ein Gebäude betreten, ohne sich auszuweisen. Als ich letzte Woche die National Defense University betrat, war das wie in der Grünen Zone in Bagdad: Alles wurde, nachdem ich bereits meine Genehmigung gezeigt hatte, penibel durchsucht.

Der Secret Service hat in Washington nicht nur die schwierigste Sicherheitsaufgabe, sondern auch die auffälligste. Jeden Abend dröhnen die Sirenen, wenn eine gewaltige Auto- und Motorradkolonne den Vizepräsidenten heimbringt in die Massachusetts Avenue. Vielleicht sind ja so viele Fahrzeuge wirklich nötig, aber mich erinnert die Szene ehrlich gesagt an das Moskau der Sowjetzeit.

Mit 3000 Drohungen gegen den US-Präsidenten soll sich der Secret Service jedes Jahr herumschlagen müssen. Abgesehen von der Al-Kaida gibt es da draußen bestimmt eine Menge Wirrköpfe, die ihm und seiner Familie etwas antun wollen. Vermutlich kommt es daher, dass die Mitarbeiter des Secret Service zu den rüdesten Menschen in Washington zählen. Auch ein früherer Stabschef des Weißen Hauses bekam ihre Unfreundlichkeit zu spüren, als er einmal ohne Erkennungs-chip unterwegs war.

Wenn es um die Sicherheit geht, ist es schwierig zurückzustecken. Wir haben jetzt allerdings den Punkt erreicht, an dem die entstandene Festungsmentalität den Nutzen überschattet. Vernünftige Vorkehrungen muss man treffen, ja - aber die Wahrheit ist: Wir alle müssen mit dem Bewusstsein der Verwundbarkeit leben. Es ist Teil des modernen Lebens.

Muellers nächster Haarschnitt geht auf mich. Und wenn sein Sicherheitstrupp es gestattet, würde ich ihm gern die Gegend zeigen.

Übersetzung: Redaktion

briefausdenusa@wienerzeitung.at