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"IS ist nur eine banale Verbrecherbande"

Von Simon Rosner

Politik

Jugendpsychiater Michael Günter über die Attraktivität des IS, Parallelen zu RAF und Neonazis und wie man den IS entmystifizieren kann.


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Wien. Es dürften schon weniger europäische Kämpfer geworden sein, doch nach wie vor übt der sogenannte Islamische Staat eine offenbar hohe Attraktivität auf junge Menschen in Europa aus. Laut Informationen des Innenministeriums sollen derzeit knapp 40 Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft aufseiten des IS im Ausland kämpfen. Dass diesem Phänomen unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, ist naheliegend. Am Freitag und Samstag beschäftigte sich am Wiener AKH ein Kongress mit den tiefenpsychologischen Aspekten des Fanatismus. Einer der Vortragenden war der Kinder- und Jugendpsychiater vom Klinikum Stuttgart, Michael Günter. Als Gutachter ist er seit vielen Jahren auch bei Strafprozessen tätig und forschte in diesem Zusammenhang zu Neonazis. 2011 veröffentlichte er sein Buch "Gewalt entsteht im Kopf" (Klett-Cotta).

"Wiener Zeitung": Es gibt einen Bericht, dass das typische Alter von Foreign Fighters des IS zwischen 16 und 25 Jahren liegt. Warum sind Jugendliche dafür so anfällig?Michael Günter: Der Großteil ist wohl über 20, auch bei den Attentätern von Paris. Ich ziehe vor, sie als junge Erwachsene zu bezeichnen. Denn da fängt aus meiner Sicht auch das Problem an.

Inwiefern?

Ich hacke darauf herum, weil ich es problematisch finde, dass viel auf Jugendliche projiziert wird. Wir wollen es wegkriegen von uns Erwachsenen. Deshalb beharre ich darauf, dass es junge Erwachsene sind, die da überwiegend fanatisch sind und Gewalt ausüben.

Aber es gibt auch viele ganz Junge, die diese Ideologie teilen.

Jugendliche nehmen Versatzstücke, die in der Gesellschaft bereitliegen, und argumentieren auch damit. Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass sich etwa auch Neonazi-Gewalttäter nicht von Gewalttätern ohne ideologischen Hintergrund unterscheiden. Das Ideologische ist etwas beliebig. Bei jungen Erwachsenen ist die ideologische Verfestigung dann schon fortgeschritten. Dann sind es schon ideologisch angetriebene Gewalttaten, die mit völlig paranoider Weltsicht und Verblendung einhergehen.

Was passiert in dieser Phase vom Jugendlichen hin zum jungen Erwachsenen?

Mit 16 Jahren gewinnt die Peergroup zunehmend an Einfluss. Man löst sich aus den infantilen Bindungen an die Eltern, um erwachsen zu werden. Das heißt auch: Ich bin darauf angewiesen, was die Peergroup sagt, und identifiziere mich mit ihren Normen. Jugendliche sind deshalb auch anfällig für Führerfiguren und extreme Standpunkte. Das macht der IS auch exzellent. Die Propagandamaschine funktioniert super: Man kann einen Jeep fahren, hat eine Kalaschnikow, dazu eine Fahne, die einer Piratenfahne ähnelt.

Der Dschihadismus und das Sympathisieren damit wird auch als Provokation gegen Elternhaus und Gesellschaft beschrieben. Welche Rolle spielt Provokation?

Das ist eine Seite, die man nicht unterschätzen darf. Als ich jung war, war das noch simpel. Da musste man sich nur die Haare langwachsen lassen. Heute ist das schwieriger. Die andere Seite ist, dass diese Jugendlichen meist depriviert sind, oft Gewalt erlebt haben und marginalisiert sind. Sie suchen Anerkennung und narzisstische Betätigung. Sie wollen Teil einer "tollen Sache" sein.

Fanatismus ist für Europa kein neues Phänomen, war aber in jüngerer Vergangenheit eher auf rechte wie linke Ideologien bezogen. Bei Neonazis etwa oder auch der RAF in Deutschland. Spielt sich da psychologisch Ähnliches ab?

Ich glaube schon. Gerade bei der RAF gab es das Phänomen dieser Begeisterung für die "tolle Sache". Und es gab einen enormen Gruppendruck und auch ideologischen Druck. Wenn man die Texte der RAF liest, ist das ja ideologisch völlig verblasenes Zeug. Doch das war erst die zweite Entwicklung. Am Anfang stand dieses Sich-Berauschen an der vermeintlich "tollen Sache".

Bei RAF und Neonazis hat es in Teilen der Gesellschaft genauso Sympathie gegeben wie jetzt beim IS. Gewalt und Fanatismus werden zwar abgelehnt, aber zumindest im Stillen wird die Kritik, die da auch mitschwingt, geteilt. Wie gefährlich sind daher Sympathien?

Das ist eine extrem schwierige Frage, weil sich natürlich aus den Sympathisanten die Täter rekrutieren. Andererseits kann eine Kritik auch berechtigt sein, wenn man die Ideologie und die sinnlose Gewalt außer Acht lässt. Was etwa Ulrike Meinhof in ihrem Buch "Bambule" kritisiert hat (autoritäre Erziehungsmethoden, Anm.), war ja durchaus berechtigt. Es wäre also fatal, wenn man alle Sympathisanten unter Generalverdacht stellen würde.

Die Wirtschaftsmigration der Boom-Jahre war in weiterer Folge von einem heftigen Diskurs über Ausländer begleitet. Was genau macht dies mit Heranwachsenden, die auf einmal zum gesellschaftspolitischen Streitthema werden?

Es ist nicht so sehr das Problem, dass sie Streitthema werden, sondern die Frage ist: Habe ich eine Chance auf Teilhabe in der Gesellschaft? Das ist der entscheidende Punkt. Hier sind Jugendliche sehr vulnerabel. Warum kommt es zu Aufständen in den Banlieues in Frankreich? Weil die Jugendlichen dort wissen, dass sie keine Chance auf Teilhabe haben. Und wenn ich eh keine Chance habe, bilde ich eine Gegengesellschaft, in der ich angesehen bin. Das funktioniert nicht bewusst, ist aber eine logische Folge. Es ist das, was der Psychoanalytiker Erik Erikson als negative Identität bezeichnet. Wenn mir schon nichts Gutes zugetraut wird, dann ziehe ich Identität und Selbstwert daraus, dass ich das Negative, das mir zugeschrieben wird, pflege und zelebriere.

Kinder aus konservativen muslimischen Familien, die hier aufwachsen, sind oft mit unterschiedlichen Wertvorstellungen ihrer Eltern einerseits und der Gesellschaft andererseits konfrontiert. Schafft das eine brisante Zerrissenheit?

Absolut. Es gibt Mädchen, die mit Kopftuch aus dem Haus gehen und es an der Straßenecke herunterziehen. Wenn das aber der Bruder sieht, gibt es Krach. Diese kulturelle Zerrissenheit macht unruhig und macht Angst. Viele bewältigen das auch nicht. Das macht sicher auch einen Teil dieses religiösen Fanatismus aus.

Es gibt soziologische, psychologische und auch politisch-islamische Faktoren, die dazu beitragen, dass europäische Jugendliche zu Dschihadisten werden. Natürlich stellt sich die Frage, wie man das verhindern kann. Was würden Sie als Psychiater der Politik vorschlagen?

Kurzfristig muss man dem IS entgegentreten, auch militärisch, um ihm diese narzisstische Überhöhung zu nehmen. Man muss auch propagandistisch vorgehen und deutlich machen: Wenn du dich dem IS anschließt, bist du Kanonenfutter. Man muss Stimmung machen, denn wenn die Stimmung kippt, dann kriegt man die jungen Menschen. Das ist ein bisschen so wie mit dem Rauchen. Innerhalb weniger Jahre ist der Anteil der Raucher einer bestimmten Altersgruppe von 40 auf 13 Prozent gesunken. Es ist die Frage: Was passiert in Peergroups? Was ist sexy?

Zwischen etwas "sexy" finden und Menschen kaltblütig ermorden, gibt es einen Unterschied. Müssen bei diesen Mördern nicht auch psychische Störungen vorliegen?

Ganz und gar nicht. Die Leute gehen dorthin, vielleicht auch aus Abenteuerlust. Sie stellen sich aber nicht vor, was für ein dreckiges Geschäft der Krieg ist und dass sie bald umkommen werden. Aber jetzt sind sie dort und in eine Befehlsstruktur eingebunden. Sie wissen: Wenn sie einen falschen Schritt machen, werden sie abgeknallt. Was bleibt ihnen? Sie machen mit. So wie es auch beim Nazi-Terror war. Das sind ja keine willensstarken Leute, sondern überwiegend Schwächlinge.

Aber der Prozess ist so kurz. Binnen weniger Monate wird aus einem Schüler aus Europa auf einmal ein Terrorist, der in Syrien Köpfe abschneidet. Was passiert da in so kurzer Zeit?

Das kann man nicht verstehen, ist aber das Normalste auf der Welt. Das klingt jetzt übel, aber die sind dann nicht mehr in der Situation, in der sie das aus Überzeugung machen oder vielleicht nur ein bisschen. Man müsste enorme Willensstärke aufbringen, um zu sagen: Das mache ich jetzt nicht. Diese Gruppenprozesse entfalten aber speziell bei Jugendlichen so eine Wirkmächtigkeit, dass sie sich dieser Prozesse nicht entziehen können.

Wenn die Psychologie präventiv Fanatismus kaum verhindern kann. Kann sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn es bereits eine Radikalisierung gibt, helfen?

Sicher nicht im Sinne von Gehirnwäsche. Es muss Aussteigerprogramme geben. Bei Neo-Nazis war das sehr erfolgreich. Es muss aber Bereitschaft dazu geben, sonst hat man keine Chance.

Das klingt etwas pessimistisch. Von psychologischer Seite kann man kaum etwas tun, gesellschaftliche und politische Prozesse dauern lange oder sind überhaupt utopisch. Kann es sein, dass das Interesse am IS auch einfach ausläuft?

Ich glaube schon. Wenn man sieht, dass der IS zusammenbricht, verliert er an Attraktivität. Man muss den IS entmystifizieren. Er ist nur eine banale Verbrecherbande. Ein Verstehen von gruppenspsychologischen Prozessen kann uns aber sehr wohl weiterbringen, eben durch die Entwicklung von Strategien, wie man Gegenpropaganda macht und Alternativperspektiven entwickelt, und wie man das Gefühl der Jugendlichen von Entwertung und Marginalisierung aufgreift. Das ist allerdings eher auf einer gesellschaftlichen Ebene angesiedelt. Es muss sich daher auch die Gesellschaft, wir, verändern.

Der internationaler Kongress
für Angewandte Tiefenpsychologie
zum Thema Fanatismus fand im
AKH Wien statt. Abstracts der
Vorträge finden sich unter : www.oegatap.at