Staatsreligion der Türkei ist nicht der Islam, sondern der Laizismus, von den Militärs mit Argusaugen gehütet und notfalls auch durch Putsch durchgesetzt. Wer wie die Frau von AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan das Kopftuch, als religiöses Symbol, in die Öffentlichkeit oder eine Amtsstube trägt, kann Schwierigkeiten bekommen. Obwohl sie oft Opfer des Verfassungsrigorismus sind, lösen die türkischen Islamisten Unbehagen aus, auch diesseits des Bosporus. An ihrem Erstarken würde auch eine von den USA forcierte und jetzt von Deutschland vertretene EU-Mitgliedschaft der Türkei wenig ändern.
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Erdogans Gerechtigkeits- und Aufbruchspartei (AKP) liegt in allen Umfragen vorne. Damit stehe die Türkei zum zweiten Mal binnen sechs Jahren vor der Machtübernahme durch Islamisten, sagen Erdogans Gegner. Die AKP selbst indes bezeichnet sich als bürgerliche Partei, die den politischen Islam hinter sich gelassen hat.
Erdogan verglich sie jüngst in der spanischen Zeitung "El Pais" mit der CDU in Deutschland. Viele Türken und das westliche Ausland scheinen bereit zu sein, ihr das zu glauben. Die meisten Mitglieder der Parteiführung sind freilich in der islamistischen Bewegung groß geworden. Kenner des politischen Islam in der Türkei bescheinigen der AKP, weder im Programm noch in Äußerungen ihrer Spitzenleute Hinweise auf eine islamistische Ausrichtung zu geben.
Im Wahlkampf wirbt die Partei besonders mit dem Saubermann-Image Erdogans, der sich als fähiger Bürgermeister Istanbuls landesweit Anerkennung erwarb. Die AKP befürwortet den EU-Beitritt der Türkei und konnte auch in der Wirtschaftspolitik die Gemüter beruhigen. Den Versuch einer radikalen Neuausrichtung der Türkei von West nach Ost wie 1996 unter dem islamistischen Premier Necmettin Erbakan wird es mit Erdogan deshalb wohl kaum geben. Dennoch wird die AKP von ihrer islamistischen Vergangenheit immer wieder eingeholt. Erdogan ist in den 90-er Jahren wegen eines Gedichtzitats ("Die Moscheen sind unsere Kasernen") wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Seine Position als Parteivorsitzender ist auch der Grund für das Verbotsverfahren, das über der Partei schwebt.
Stabilisierung durch EU?
Die USA wünschen eine türkische EU-Mitgliedschaft vor allem aus geostrategischen Gründen, in Europa dagegen wird geglaubt oder glauben gemacht, eine Vollmitgliedschaft würde dem Land eine Demokratisierung bringen, das Draußenbleiben hingegen würde die Türkei in den Abgrund des Islamismus stürzen. Sie ist jedoch schon bisher nirgendwo hin gestürzt. Die "Frankfurter Allgemeine" fragte diese Woche in einem Kommentar, woher gewährleistet sei, dass die Islamisten nach einem EU-Beitritt an Stimmen verlieren. Sie hätten vielmehr Reisefreiheit in ganz Europa, warnte das konservative Blatt. Während in Ankara deutsche Parteistiftungen und das Orient-Institut wegen "Geheimbündelei" und Spionage angeklagt wurden, versucht die deutsche Regierung den Europäern die Türkei schmackhaft zu machen. Ankara hat den Beitritt mehrfach zu erzwingen versucht - und könnte als eines der größten EU-Mitglieder die Union auch nachher in eine Richtung zwingen, die in absehbarer Zeit im Kaukasus und in der kaspischen Ölregion zu dramatischen Friktionen mit Russland führen muss.