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"Israelis lassen Netanyahu gewähren"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Auferstehung Irans bereitet Nachbarn Sorgen, bietet aber auch Chancen.


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"Wiener Zeitung": Wer macht sich im Nahen Osten mehr Sorgen über den Deal mit dem Iran, Israel oder die sunnitischen Araber?Daniel Levy: Nun, generell gibt es im Umgang mit dem Iran Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Beide sind besorgt, dass es der schlafenden Regionalmacht Iran nun erlaubt wird, wieder zu erwachen als richtige, echte Regionalmacht und ihr darüber hinaus erlaubt wird, Beziehungen auf der internationalen Bühne zu haben. Ein Unterschied wiederum ist, dass der Iran daran interessiert ist, bessere Beziehungen mit der Arabischen Welt zu haben. So hat man etwa bereits versucht, auf die Saudis zuzugehen. Wenn also die Araber bessere Beziehungen zum Iran möchten, ist das möglich. Das trifft nicht für Israel zu, man zieht keine besseren Beziehungen in Betracht.

Der Iran ist aber freilich kein Nachbarland von Israel und es gibt dort keine schiitische Minderheit. Es gibt in der Region nun Bedenken, dass der Iran vielleicht die schiitische Minderheit mobilisieren könnte. Für die Golfstaaten wie Saudi-Arabien oder andere sind die Anlässe für Bedenken hier unmittelbarer.

Haben die sunnitischen Araber Ihrer Meinung nach ein Interesse an der Kooperation mit dem Iran?

Ich glaube, das ist eine strategische Frage, die sie sich selbst noch nicht wirklich gestellt haben. Man kann auch nicht wirklich von "ihnen" sprechen, denn Ägypten ist eine Sache, es steckt tief in eigenen Problemen mit dem Coup und es geht momentan um das Überleben des Regimes und nicht darum, regional-strategisch zu denken. Die Golfstaaten sind wieder anders zu sehen. Es gibt Leute in den Golfstaaten, und sogar in Saudi-Arabien, die finden, dass das ein viel cleverer Schachzug wäre, nicht wie jetzt die Amerikaner wegen ihrer Heimlichtuerei im Vorfeld des Iran-Deals diese anzujammern, sondern dafür einzutreten, selbst mit dem Iran zu reden. Das würde sie auch in eine bessere Position gegenüber den USA bringen. Grundsätzlich glaube ich aber nicht, dass der Golf sich bewegt, wenn es Saudi-Arabien nicht vormacht. Die Saudis sind hier der Schlüsselspieler, haben aber auch wegen interner Probleme momentan Schwierigkeiten, große Entscheidungen wie diese zu treffen.

Manche Stimmen raten den Amerikanern nun an, die Saudis fallen zu lassen und sich künftig vermehrt den Iranern zuzuwenden. Auf welches Pferd in der Region werden die Amerikaner setzen?

Meiner Meinung nach ist es im Interesse der USA, mehrere Optionen zu haben und einen regionalen Player gegen den anderen ausspielen zu können. Daher steht es auch außerhalb jeglichen Zweifels, dass bessere Beziehung zum Iran im Interesse Amerikas sind. Neben den wirtschaftlichen Chancen für die USA werden dadurch auch diplomatische Deals ermöglicht, die ein besseres regionales Klima schaffen können. Das heißt nicht, dass morgen oder nächste Woche oder in sechs Monaten der Iran sagt: "Sicher, wir können einen Deal machen in Syrien, im Jemen oder Libanon, im Irak oder in Afghanistan", aber Amerika wird ein breiteres Spektrum an Aktionsmöglichkeiten haben.

Hat der Atomdeal mit dem Iran auch Auswirkungen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt? Erhöht sich dadurch der Druck auf Israel?

Wenn man der Ansicht ist, dass es eine ernsthafte Aussicht auf Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern gibt, könnte man das durchaus argumentieren. Ich glaube aber, dass die Bemühungen um Verhandlungen ohnehin nicht ernst gemeint sind. Ich finde nicht, dass wir auch nur irgendein Signal oder irgendeine Aktion der Netanyahu-Regierung gesehen haben, die es uns erlaubt anzunehmen, Israel sei bereit, seine Position zu den besetzten Gebieten zu ändern, einen würdigen, souveränen Palästinenserstaat in Betracht zu ziehen oder ernsthaft die Okkupation zu beenden. Ich glaube also nicht, dass es hier eine Friedensabsicht gibt, die entweder fortschreiten oder verzögert werden kann durch das Iran-Thema. Die israelische Position in der Palästinenserfrage führte vor dem Deal in Genf nirgendwo hin und das tut sie auch nach dem Deal nicht.

Riskiert Israel durch seine Reaktionen auf das Abkommen mit dem Iran internationale Isolation?

Ich glaube, dass viele Menschen sagen würden, dass Premier Netanyahu sich sehr unweise verhält. Seine unmittelbare Antwort - "ein historischer Fehler, 1938, München, Chamberlain" - das kaufen ihm die meisten Leute nicht ab - auch Israelis nicht. Je mehr Netanyahu so reagiert, desto eher sind die Leute gewillt, die israelische Führung zu kategorisieren als eine, die unsinnig ist. Sogar wenn man grundsätzlich Israel wohlgesonnen ist, ist man zunehmend herausgefordert, zu verstehen, was zum Teufel seine Führer zu tun versuchen und wie zum Teufel sie glauben, dass so eine Politik gut sein soll für Israel.

Die Wahrheit ist doch - was in Genf ausverhandelt wurde, ist ein harter Deal für den Iran. Und wenn man im Iran über die Frage nachdenken muss, wie man das Abkommen - die Iraner haben keine Sanktionslockerungen erhalten, mussten aber viel aufgeben - zuhause verkauft, muss man sich dort doch denken: Danke, Himmel, für diesen Netanyahu - er macht es uns so viel einfacher! Es gibt also einige, die sich wirklich Fragen, wieso er so reagiert.

Das eine ist das Verhalten der politischen Elite, das andere die Stimmung in der Bevölkerung. Wie sehen die Israelis die Charmeoffensive des Iran?

Hier muss ich fair sein. Die israelische Bevölkerung steht weitgehend auf der Seite Netanyahus, wenn auch nicht aktiv. Was viele missverstehen ist, dass das ganze in Israel selbst kein großes Thema ist, auch wenn das komisch klingt. Wenn man die Menschen fragt - soll Israel jetzt militärisch unilateral handeln, hat Netanjahu wohl keine Mehrheit. Man darf aber nicht vergessen, dass zu einem großen Teil der Premier das Thema in der Öffentlichkeit definiert hat. Es gibt sehr wenig ernsthafte politische Opposition in Israel und keinen großen Gegenspieler im Bereich der nationalen Sicherheitspolitik. Sie alle sind Frischlinge, fast Analphabeten in dem Bereich. Leider wurden die Israelis in verantwortungsloser Weise über viele Jahre von den gleichen Politikern mit Angst gefüttert. Man sieht, dass dies einen Effekt hat. Andererseits hat es nichtsdestotrotz nie eine Demonstration in Israel gegen den Iran gegeben. Nach den Ereignissen in Genf ist es wirklich nicht so, dass die israelische Bevölkerung nun mobilisiert wäre und schreien würde: "Nein, der Holocaust kommt!" Die Menschen sind also nicht so wie Netanyahu, aber sie widersetzen sich ihm auch nicht dramatisch.

Wie bewerten Sie die aktuellen US-Israel-Beziehungen?

Grundsätzlich sind die US-israelischen Beziehungen extrem stark. Amerika hat nicht vor, sich von Israel zu lösen. Die USA werden nicht sagen: "Hey, wisst ihr was, ihr betreibt Lobbying im Kongress gegen den US-Präsidenten, ihr erhaltet jährlich drei Milliarden US-Dollar, wir stellen sicher, dass ihr, obwohl ihr Brecher von internationalem Recht und Menschenrechten seid, euch dennoch im UN-Sicherheitsrat keine Sanktionen drohen, wir versorgen euch mit den neuesten Waffensystemen, wir erlauben euch enorme Mitsprache in unserer Politik in der Region - und ihr habt die Dreistigkeit, euch so zu verhalten, gegen unseren Präsidenten? Wegen eines Deals, der ein guter Deal ist für euch gemessen an objektiven Standards? Jetzt habt ihr ein Problem." Aber das wird nicht passieren.

Aktuell erreichen wir zwar gerade ein Limit in der Frage, inwiefern Amerika gewillt ist, seine eigenen Interessen zu unterminieren, weil sich Israel in die amerikanische politische Debatte zwischenschaltet. Aber auch wenn wir dieses Limit jetzt erreichen, sehen wir trotzdem kein Zurückrudern in allen anderen Dingen, die diese einzigartige Beziehung konstituieren. Eine Beziehung, die sogar Israel hilft, es zu vermeiden, Entscheidungen zu treffen, die Israel eigentlich treffen sollte. Nichts könnte mehr im Interesse Israels sein, als aus dem Business auszusteigen, Gebiete zu besetzen und Palästinensern ihre Freiheit zu verweigern. Die Beziehung zu Amerika aber erlaubt es Israel, diese Entscheidung nicht zu treffen. Es ist eine ungewöhnliche Beziehung.

Wann immer Geopolitik in Schwung kommt und neue potenzielle Hegemonie-Anwärter auftauchen, mehren sich Konflikte. Was sind die größten Chancen und Risiken für die Region, wenn der Iran eine zunehmende Rolle spielt?

Wir haben in der Region nun sektiererische Spannungen, eine saudisch-iranische Verwerfungslinie und ein fast nahtloses Kriegsgebiet vom Libanon aus, mit Syrien in seinem Epizentrum, über den Irak bis hin zu Teilen der Golfstaaten. Das Risiko ist natürlich, dass das immer weiter eskaliert. Die Chance hingegen ist die genau andere Seite der Münze: Dass die Region sich die Realitäten ansieht, also die wachsende Radikalisierung auf allen Seiten, die sich vermehrenden unregierbaren Regionen - etwa in der Sahel, Teilen Jemens oder der Levante - und man zum Schluss kommt, dass das für alle schlecht ist und keiner unversehrt herauskommt.

Und in dem Moment, in dem man dies realisiert, besteht die Möglichkeit - wenn auch der Iran sich weiter öffnet, auf andere zugeht und dies erwidert wird -, dass die Hauptakteure in der Region sagen, lasst uns doch alles deeskalieren. Denn: Wer auch immer der Letzte sein wird, der noch steht, wird vermutlich so blutbefleckt und zerschrammt dastehen, dass es für keinen von uns auch nur annähernd wie ein Sieg aussehen wird.

Und wenn man in dieses Gemengelage noch die USA hinzufügt, die schmerzvoll die Lektion der Grenzen militärischer Macht lernten und welche Folgen es hat, wenn man sich übernimmt, und nun wieder neu die Regeln der Diplomatie erlernen, wäre dies das - vielleicht auch zu optimistische - Hoffnungsszenario.

Zur Person



Daniel

Levy

ist der Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika beim European Council on Foreign Relations in London. Der Politikwissenschafter arbeitete mehrere Jahre als Berater für die israelische Regierung. Diese Woche sprach Levy im Bruno Kreisky Forum über Risiken und Chancen im Mittleren Osten.