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Israelischer Annexionskurs

Von WZ-Korrespondent Andreas Schneitter

Politik

Justizministerin Schaked will die Einführung des israelischen Rechtssystems für jüdische Siedlungen in großen Teilen des Westjordanlands erzwingen. Leidtragende wären die Zweistaatenlösung und die palästinensische Bevölkerung.


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Tel Aviv. Von einer "Bombe" ist die Rede, vom "Todesstoß" für die dahinsiechende Zweistaatenlösung im nahöstlichen Friedensprozess: Vergangene Woche kündigte die israelische Justizministerin Ajelet Schaked einen Gesetzesentwurf zur Einführung des israelischen Rechtssystems in rund 60 Prozent des Westjordanlands an. Die Ministerin begründete den geplanten Vorstoß mit der mangelnden Rechtsgleichheit im betreffenden Gebiet: In der sogenannten Zone C wohnt der Großteil der rund 700.000 israelischen Bürger, die in nach internationalem Recht illegalen Siedlungen in den Palästinensergebieten leben.

Anders als die Bevölkerung, die innerhalb der international anerkannten Grenzen Israels von 1967 lebt, besitzen die Siedler zwar die israelische Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht, unterliegen jedoch nicht dem israelischen Rechtssystem. Seit Israel 1967 das Gebiet der jordanischen Herrschaft abgenommen und unter Militärverwaltung gestellt hat, gilt dort ein Rechtssystem, das einem Fleckenteppich gleicht: Gesetze jordanischem, britischen und gar osmanischen Ursprungs sind weiterhin gültig, hinzu kommen die Verordnungen der Militärverwaltung, das Völkerrecht der Genfer Konventionen und das Mitte der 1990er Jahre von Israelis und Palästinensern geschlossene Interimsabkommen, die sogenannten Osloer Verträge.

Gebiete gelten nicht als besetzt, sondern als befreit

Seither ist das Westjordanland in drei Zonen von unterschiedlicher Autorität unterteilt, wobei die größte von ihnen, die Zone C, weiterhin nahezu komplett unter israelischer Herrschaft steht. Sie umfasst nicht nur fast das gesamte Jordantal, sondern ebenso die großen israelischen Siedlungsblöcke. Rechtsnationale Politiker in Jerusalem, unter ihnen auch Justizministerin Schaked von der Siedlerpartei "Jüdisches Haus", fordern seit langem die Annexion der Zone: in ihrem Sprachgebrauch gelten diese Gebiete nicht als besetzt, sondern als "befreit", eine Angleichung an das israelische Rechtssystem wäre gemäß dieser Sichtweise längst fällig. Das Gesetz, das Schaked in den nächsten Wochen dem Parlament vorlegen will, hat gute Chancen. Seit den Wahlen im März 2015 regiert in Jerusalem eine knappe, jedoch bisher erstaunlich stabile rechtsgerichtete Koalition. Premier Benjamin Netanjahu vom nationalkonservativen Likud regiert neben dem "Jüdischen Haus" mit der sozialkonservativen Kulanu sowie den beiden religiösen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum.

Das Parlament kann auf bekannte Prozedere zurückgreifen: 1980 und 1981 wurden mit jeweils deutlicher Stimmmehrheit zuerst Ostjerusalem, später die Golanhöhen unter israelisches Recht gestellt und damit formell annektiert. Beide Gebiete standen wie das Westjordanland seit 1967 unter israelischer Verwaltung.

Innerhalb eines Jahres soll mit der Zone C dasselbe geschehen, plant Justizministerin Schaked. Unterstützung erhält sie nahezu unisono vom rechten Lager: Ihr Parteichef Naftali Bennet drängt schon lange darauf, und ihr Parteikollege und stellvertretender Verteidigungsminister Eli Ben-Dahan nannte den Zeitpunkt günstig: In den Vereinigten Staaten befindet sich die Präsidentschaft von Barack Obama im Endstadium, die Aufmerksamkeit gilt dem Kandidatenrennen Trump versus Clinton.

Palästinenser weiterunter Militärverwaltung

Und die Erschütterung durch die Terrormiliz des "Islamischen Staats" hat mehrere erstarrte Fronten im Nahen Osten aufgebrochen: Nach jahrelanger Eiszeit zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und dem israelischen Premier Netanjahu hat in den vergangenen Monaten ein Tauwetter eingesetzt, seit Ankara und Jerusalem gemeinsame Interessen in der Syrien-Krise entdeckten. Auch das saudische Königshaus teilt sich mit Israel einen gemeinsamen Feind: Den Iran, der durch seine Rolle im syrischen Bürgerkrieg, vor allem aber durch das 2015 geschlossene Nuklearabkommen zwischen Teheran und dem Westen, gegen das Jerusalem wie Riad vergeblich opponiert haben, an regionalem Gewicht gewonnen hat. Seit Jahresbeginn haben verschiedene inoffizielle Treffen zwischen israelischen und saudi-arabischen Sicherheitsvertretern stattgefunden.

Netanjahu selbst hat sich zum Projekt seiner Justizminister nicht geäußert und hält an seinem Kurs des taktischen Lavierens fest: ein Lippenbekenntnis zu einer nicht näher definierten Zweistaatenlösung nach außen, Unterstützung für den Siedlungsbau nach innen. Am vergangenen Wochenende publizierte die Zeitung "Haaretz" einen Plan der Regierung, im Norden des Westjordanlands eine neue Siedlung für 40 Familien zu bauen.

Kommt die De-facto-Annexion von über der Hälfte des Westjordanlands durch, stünden nicht nur die Bemühungen für einen funktionsfähigen Palästinenserstaat vor unüberwindbaren Hindernissen. Leidtragende wäre vor allem die palästinensische Bevölkerung in der betreffenden Zone. Ihre Zahl divergiert je nach Quelle, die UNO geht von 300.000 Menschen aus, Israel von lediglich 50.000, eindeutig ist jedoch ihr Los: Sie wären, da ohne israelische Staatsbürgerschaft, von der neuen Rechtsordnung ausgeschlossen und weiterhin der Militärverwaltung unterstellt.