Vierte Bodenoffensive in Gaza seit acht Jahren: Die USA fordern von Israel Zurückhaltung.
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Tel Aviv. Der Krieg mit der Hamas hat eine neue Eskalationsstufe erreicht: In der Nacht auf Freitag rückte die israelische Armee überraschend mit Bodentruppen in den Gazastreifen ein.Man habe sich dazu entschlossen, "nachdem alle anderen Optionen ausgeschöpft waren", erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Freitag und drohte, die Bodenoffensive im Gazastreifen "erheblich auszuweiten". Ein baldiger Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas ist damit vorerst vom Tisch.
Als Grund für die Operation nannte Netanyahu die "Bedrohung durch die Untergrundtunnel" zwischen dem Gazastreifen und Israel. Durch einen dieser Tunnel wollten am Donnerstag 13 bewaffnete Kämpfer nach Israel vordringen. Sie wurden jedoch in letzter Minute mit israelischen Luftangriffen zurückgeschlagen.
Bei den Gefechten in der Nacht auf Freitag wurde erstmals auch ein israelischer Soldat getötet. Es ist das zweite Opfer auf israelischer Seite, nachdem am Dienstag ein freiwilliger Helfer der Armee von Splittern einer Rakete getroffen wurde. Seit Beginn der Bodenoffensive in der Nacht auf Freitag tötete die israelische Armee mindestens 33 Palästinenser - unter ihnen drei Jugendliche und ein fünf Monate altes Baby. Damit wurden seit Beginn des Militäreinsatzes im Gazastreifen am 8. Juli laut UNO-Statistik 274 Palästinenser getötet.
Zermürbt und schockiert
Nur wenige Stunden vor dem überraschenden Start der Bodenoffensive hatten die Menschen im Gazastreifen noch auf ein baldiges Ende gehofft. Zermürbt von den anhaltenden Bombardierungen und schockiert über die vielen getöteten Kinder, steht der Großteil der Bevölkerung zumindest moralisch hinter der Hamas.
"Ich schlafe die ganze Zeit", sagte Sabi, der Besitzer eines Strandrestaurants in Gaza-Stadt, am Donnerstagabend übers Telefon. An einem üblichen Sommertag im Fastenmonat Ramadan wäre sein Restaurant voll mit Gästen, mit Männern die Wasserpfeife rauchen und Backgammon spielen, und mit Familien, die sich gegrillten Fisch servieren lassen. Heuer nicht: "Alles ist geschlossen, Restaurants, Cafés. Es gibt keine Arbeit", klagt Sabi.
Wie viele Zivilisten zahlt auch seine Familie einen hohen Preis für die anhaltende Gewalt. So ist das Haus seines Bruders bei einem Luftangriff auf das Gebäude nebenan völlig zerstört worden. "Nebenan hat ein Mitglied der bewaffneten Milizen gewohnt. Aber wer wird das Haus meines Bruders wieder aufbauen?" Laut UNO-Zahlen haben derartige Luftangriffe auf Wohnhäuser im Gazastreifen bisher 1780 Familien vertrieben und ohne Zuhause zurückgelassen.
Dabei ist beschädigtes Eigentum noch das geringere Übel. Nicht weit von Sabis Restaurant hat sich am Mittwoch einer der bisher tragischsten Vorfälle seit Beginn der israelischen Operation ereignet - ein Vorfall, der US-Außenminister John Kerry dazu bewog, von Israelöffentlich mehr militärische Zurückhaltung einzumahnen: ein israelisches Kampfschiff nahm einen Strandabschnitt unter Beschuss und tötete dabei vier palästinensische Kinder einer Fischerfamilie. Der neunjährige Ismail, der zehnjährige Zakaria und die beiden Elfjährigen Ahed und Mohamed hatten am Strand Fußball gespielt, als sie vom Meer aus unter Beschuss genommen wurden. Die israelische Armee nannte den Vorfall "ein tragisches Resultat", das man untersuchen werde.
"Sie haben dort gespielt wie immer. Wir leben 300 Meter vom Strand entfernt. Der Strand ist ihr Leben. Ein Leben, das viel zu schnell enden musste", sagt Abu Jaber, ein Onkel der vier Cousins der Familie Bakr. Dieser Vorfall löste eine Schockwelle aus, die bei vielen das letzte Stück Verständnis für Israels Selbstdarstellung als moralische Armee einbrechen ließ. "Die israelischen Verteidigungskräfte sind eine moralische Armee wie keine andere", erklärte hingegen Netanyahu am Freitag, und machte ausschließlich die Gegenseite, also Hamas, für den Tod von Zivilisten im Gazastreifen verantwortlich.
Für Abu Jaber und den Rest der Familie bricht jedenfalls eine Welt zusammen. "Ich habe kein Problem mit Israel, keines mit der Hamas. Aber diese Kinder einfach abzuschießen, das ist zu viel. Es ist Ramadan. Aber statt Güte sehen wir nur Krieg", sagt der 64-Jährige. "Wir wollen einen Waffenstillstand, Aussöhnung, irgendwas. Dieser Krieg muss aufhören." Auf die Frage, ob Israel die alleinige Schuld für den Tod unschuldiger Zivilisten trage, oder ob auch die Hamas schuldig sei, reagiert er ausweichend.
Die Frage der Verantwortung
"Die vielen Zivilisten werden hier nicht getötet, weil die Hamas sie als Schutzschilder missbraucht. Jeder hier weiß, wo die militärischen Einrichtungen liegen. Niemand geht dorthin", sagt der Politologe Usama Antar aus dem Gazastreifen. "Vielleicht lebt ein Mitglied der Hamas in einem der Häuser, oder nebenan. Der Vater, der Sohn, wer weiß? Aber warum soll es deshalb bombardiert werden? Auch ein Mitglied der Hamas ist nach internationalem Recht kein Kombattant, wenn er am Abend mit seiner Familie zu Hause sitzt."
Eine mögliche Interpretation der Rechtslage ist, dass Zivilisten den Status als "geschützte Personen" verlieren, wenn sie direkt an Kampfhandlungen teilnehmen, jedoch nur für die Dauer dieser direkten Teilnahme. Doch derartige Fragen werden schwierig, wenn Zivilisten als Schutzschilder missbraucht werden, wenn auch nur indirekt. Israel hatte die Bewohner des nördlichen Gazastreifens aufgefordert, ihre Häuser zu evakuieren, bevor es dort Luftangriffe durchführte. Die Hamas forderte die Bevölkerung aber auf, diesen Anweisungen nicht Folge zu leisten und stattdessen zu Hause zu bleiben.
Im Gegensatz zu früheren Kriegen stehe diesmal die Bevölkerung zumindest moralisch hinter der Hamas und dem Islamischen Jihad, sagt Antar. Den 1,8 Millionen Menschen im dicht besiedelten Gazastreifen sei klar, dass Israels Krieg nicht nur gegen die Hamas, sondern auch gegen die Palästinenser in Gaza generell geführt werde. Am Freitag bombardierte Israel in Gaza auch Hochhäuser, in denen palästinensische Medienbüros untergebracht sind.
Auch wenn die Opferzahlen und das Ausmaß der Zerstörung im Gazastreifen die Asymmetrie dieses Konflikts deutlich machen, fordert die wochenlange Gewalteskalation ihren Preis in Israel. Einerseits sind es die zur Routine gewordenen Alarmsirenen und Raketenangriffe, die wie Mühlsteine auf der empfindlichen Psyche der Israelis liegen. Andererseits wächst der Hass: In Tel Aviv, der Stadt vermeintlich liberalen Lebens und kritischer Straßenproteste, haben hasserfüllte Übergriffe rechter Extremisten auf Kundgebungen der Linken ein Klima der Angst geschaffen. Ein Klima, das vor allem auch die arabischen Staatsbürger Israels betrifft.
"Ich traue mich nicht mehr, Arabisch zu sprechen", sagt eine Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft, die an der Universität Tel Aviv studiert und lieber anonym bleiben möchte. "Ich habe einen Punkt erreicht, an dem ich vor jüdischen Israelis lieber Englisch spreche. Ich habe Angst, dass sie mich als Araberin erkennen."