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Israels Debakel im Libanon: Rückzug als chaotische Flucht

Von Ulrich W. Sahm

Politik

Jerusalem - "Wir konnten nur noch schnell die Hatikwa (Israels Nationalhymne) singen, wir rissen die Flagge herunter und hauten ab", sagte ein israelischer Soldat, nachdem er den Libanon hinter sich gelassen hatte. "Alles ist unter Kontrolle" behauptete dagegen der Ex-General und heutige Sportminister Matan Vilnai, als alle Schubladenpläne der israelischen Armee für einen planmäßigen Rückzug "bis" Anfang Juli durcheinander gewürfelt wurden. Die israelische Libanon-Politik finde ein "schmachvolles" Ende, klagte Oppositionsführer Ariel Sharon, der 1982 als Verteidigungsminister die Invasion geleitet hatte.


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Fernsehkameras dokumentierten, wie wirkungslos die Waffen der stärksten Militärmacht des Nahen Ostens geworden sind. Erst vor fünf Tagen hatte Israel seiner Hilfsmiliz SLA ("Südlibanesische Armee") zwei bestens befestigte Stützpunkte übergeben. Panzer, schwere Artillerie, Antennen und Truppentransporter hatten die Israelis ihren Verbündeten hinterlassen. Doch die Menschen im Südlibanon lasen die politische Landkarte anders als die Strategen der israelischen Armee am grünen Tisch in Tel Aviv.

Die SLA-Männer warfen ihre Waffen weg und ergaben sich kampflos der Hisbollah-Miliz. Die Dorfbewohner in der "Sicherheitszone" bereiteten Reis und Rosenwasser vor, um die Hisbollah-Kämpfer, bis gestern noch "Todfeinde", genauso begeistert zu empfangen wie vor zwei Jahrzehnten die Israelis. Vor allem christliche SLA-Männer und ihre Familienangehörigen fuhren mit Bussen an die israelische Grenze, um beim Amnun-Strand am See Genezareth Aufnahme in einem Flüchtlingslager zu finden. Über 1600 kamen zunächst. Israels Innenminister Nathan Sharansky hatte nur mit 600 gerechnet. "Ihr habt uns verraten!", riefen die Flüchtlinge dem ehemaligen Gewissensgefangenen in der Sowjetunion zu. Der versprach ihnen, sie so schnell wie möglich in Drittländer abzuschieben. "Israel ist sich seiner Verantwortung für das Schicksal seiner Verbündeten bewusst."

Als erste löste sich die "schiitische Division" der SLA auf. Der mittlere Abschnitt der Pufferzone geriet in die Gewalt der unbewaffnet vorrückenden Hisbollah. Vollbesetzte uralte Mercedes-Wagen mit den gelben Flaggen der Hisbollah rasten auf der libanesischen Grenzstraße entlang. Nach einem kurzen Feuerwechsel fiel der Stützpunkt Rotem am Mittelmeer nördlich von Nakura. Von dort hatten israelische Soldaten das Geschehen in Tyrus mit Ferngläsern beobachtet. Als die Hisbollah kam, begannen israelische Schnellboote, Hubschrauber und schwere Artillerie den Stützpunkt zu bombardieren. Der Hisbollah sollten nicht schwere Waffen aus israelischen Beständen in die Hände fallen.

Dienstag Mittag fiel ein Symbol der Schreckensherrschaft der SLA: das berüchtigte Gefängnis Khiam. Die christlichen Kämpfer von Israels Gnaden hatten sich aus dem Staub gemacht. Vertreter des Roten Kreuzes machten sich auf den Weg, die von der SLA gefolterten und seit Jahren misshandelten Gefangenen freizulassen. Noch am Dienstagmorgen war die Forderung nach einer Freilassung der Gefangenen aus dem Khiam-Gefängnis als "Zumutung" und "Gefährdung der Sicherheit Israels" bezeichnet worden.

In den Köpfen der israelischen Führung hat man sich noch nicht mit einem völligen Rückzug abgefunden. Verbittert reagierten israelische Politiker auf die Forderung der UNO, dass Israel seine Marine-Patrouillen vor der Küste des Libanon einstellen und den libanesischen Luftraum nicht mehr verletzen möge. Ministerpräsident Ehud Barak und sein Generalstabschef Shaul Mofaz drohen vorsorglich mit einer "Zerstörung der Infrastruktur" des Libanon und sogar mit Angriffen auf syrische Stützpunkte, falls Israel nach dem Rückzug angegriffen werden sollte. Den kriegsgewohnten Israelis scheint es schwer zu fallen, sich vom Krieg im Libanon zu verabschieden.