Zum Hauptinhalt springen

"Israels Demokratie ist nicht in Gefahr"

Von Moritz Groß

Politik

Die Geschichte des jüdischen Volkes sei die Garantie für Israels Demokratie, sagt Politologin Einat Wilf.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wöchentlich versammeln sich hunderttausende Israelis, um die umstrittene Justizreform der Mitte-rechts-Koalition unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu verhindern. Laut der Politikwissenschaftlerin und ehemaligen Knesset-Abgeordneten Einat Wilf stellt dies ein gutes Zeichen für die Demokratie dar, die sie nicht bedroht sieht.

"Wiener Zeitung": Anders als die meisten Kommentatoren und Politanalytiker sehen Sie die Demokratie in Israel nicht in Gefahr. Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?

Einat Wilf: Die Demokratie in Israel ist deshalb nicht in Gefahr, da wir verstehen sollten, was die Grundlage erfolgreicher Demokratien darstellt. Der Fehler, den viele begehen, besteht darin, zu glauben, dass Demokratien durch Verfassungen, bestimmte institutionelle Regelungen und Wahlen aufrechterhalten werden. Das sind aber nicht die Elemente, die eine Demokratie ausmachen. Auch in Nicht-Demokratien gibt es Wahlen, wunderbare Verfassungen - einige der schlimmsten Länder haben mit die schönsten - und Parlamente. Blickt man auf Demokratien, die sich im Laufe der Zeit bewährt haben, dann sind es die zugrunde liegenden Normen und Gewohnheiten, die es Bürgern in einem Staat ermöglichen, wiederholt Meinungsverschiedenheiten auszutragen, ohne in Gewalt zu verfallen. Mein Kollege Shany Mor nennt dies die "Gepflogenheit der legitimen Meinungsverschiedenheit". Die erfolgreichsten Demokratien zeichnen sich durch diese Eigenschaft aus, was bedeutet, dass man ständig uneins ist und seine Differenzen durch die Mechanismen eines Parlaments löst. Aber man betrachtet diesen Prozess als legitim: Man tötet sich nicht gegenseitig, man führt keinen Krieg, übt keine Gewalt aus. Man fährt fort, legitimerweise uneins zu sein, und man löst so seine Meinungsverschiedenheiten.

Aber einige der schlimmsten Autokraten sind durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen. Sie haben ihren Machtanspruch durch demokratische Standards legitimiert und diese dann nach und nach abgeschafft.

Natürlich können Demokratien zu autoritären Regimen verkommen und freilich können autoritäre Regime durch den demokratischen Mechanismus einer Wahl entstehen. Aber die Demokratie selbst wird nicht durch eine Verfassung oder dieses oder jenes institutionelle Arrangement geschützt. Was eine Demokratie schützt, sind die in der Gesellschaft verankerten Normen und Werte, die sie aufrechterhalten.

Welche Bedeutung haben die aktuellen Proteste in diesem Zusammenhang für die israelische Demokratie?

Die Proteste zeigen, dass jene Menschen, die die jüngsten Entwicklungen als Bedrohung für die Demokratie empfinden, bereit sind, für ihre Weltanschauung zu kämpfen. Das ist der Grund, warum der Staat Israel, das jüdische Volk und die Geschichte des Judentums die Geschichte einer Zivilisation der Uneinigkeit sind. Wenn man in den USA Politikwissenschaften studiert, liest man Toqueville und setzt sich damit auseinander, wie die amerikanische Tradition, Entscheidungen in kleinen Gemeinschaften zu treffen, das Fundament der US-Demokratie bildet. Das ist größer und wichtiger als jede institutionelle Regelung oder Verfassung. Ich behaupte, dass die Geschichte des jüdischen Volkes der Garant für die Demokratie ist.

Religiöse und rechte Fundamentalisten werden, nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung, wohl immer mehr Gewicht in der israelischen Parteienlandschaft bekommen. Was bedeutet das für die Zukunft?

Das ist das Paradoxon der israelischen Gesellschaft und der israelischen Demokratie. Viele Teilnehmer in der israelischen Demokratie haben eine nicht-demokratische Vision für das Land. Doch stellen sie weder die parlamentarische Mehrheit noch die Mehrzahl der Bevölkerung. Gleichwohl nehmen sie allesamt an der israelischen Demokratie teil, weil ihnen keine andere Wahl bleibt. Daher bezeichne ich die Demokratie in Israel auch als alternativlose Demokratie. So sind etwa die jüdischen Fundamentalisten meiner Meinung nach eine Bedrohung aufgrund ihrer Visionen, ihrer Werte und durch ihre Unterstützung der Siedlungsprojekte, aber sie sind ein Teil der israelischen Politik. Ihre Erfolge werden auf- und wieder abebben. Und wie auch andere Fundamentalisten und Populisten scheitern sie, wenn sie mit der Realität konfrontiert werden. Diese Gruppierungen versprechen einfache Lösungen, aber die Praxis funktioniert nun einmal nicht so, weshalb sie in Israel derzeit auch in den Umfragen einbrechen. Ich nenne das, was gerade in Israel geschieht, einen "fabelhaften Frontalaufprall" der populistischen Rechten mit der Wirklichkeit. Aber manchmal muss so etwas eben geschehen.

Wie kann und wird das Mitte-links-Lager auf diese Entwicklung reagieren? Werden diese Parteien jetzt an einem Strang ziehen oder wird sich die Zersplitterung fortsetzen?

Ich halte die erste Option für wahrscheinlicher, deshalb bin ich so hoffnungsvoll. Ich unterstütze die Proteste, weil ich glaube, dass sie etwas Tiefgreifendes bewirken. Sie schaffen ein Gefühl der Zuversicht und der Solidarität des säkularen Lagers in Israel, im Grunde der klassischen Zionisten. Deshalb nutzt man die Unabhängigkeitserklärung als zentralen Bezugspunkt, weil man sie als die grundlegende Vision des Staates Israel betrachtet. Ich finde es gut, dass dieses Lager gezeigt hat, dass es nicht bereit ist, aufzugeben, und ich hoffe und glaube, dass dies auch zu mehr politischem Selbstvertrauen führen wird.

Aktuelle Tweets von Einat Wilf finden Sie unter https://twitter.com/EinatWilf