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Israels Kinder, die es nie gab

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

Besuch bei Rachel Mangoli, die den Skandal der Zwangsverhütung an äthiopischen Juden aufgedeckt hat


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Tel Aviv. "Weiter putzen. Putz weiter!", tönt eine Stimme aus dem Telefonhörer der israelischen Sozialarbeiterin Rachel Mangoli. Auf der anderen Seite der Leitung spricht eine äthiopische Israelin Namens Tilamesh. Doch zu hören ist nur das Geschrei ihres wütenden Chefs. Putzen solle sie, nicht reden. Dabei hat die 32-Jährige schon viel zu lange geschwiegen.

"2002 war ich war im Lager in Äthiopien. Mein Sohn war gerade einen Monat alt. Dann ist einer gekommen und hat gesagt, wenn ich die Spritze nicht nehme, dann werde ich in Israel auch keine medizinische Versorgung bekommen", übersetzt Rachel Mangoli, was ihr Tilamesh durch das Telefon in amharischer Sprache erzählt. In der Spritze war das Langzeitverhütungsmittel Depo-Provera, das äthiopischen Immigrantinnen nach Israel in den Vorbereitungslagern Äthiopiens und noch Jahre danach im Auftrag israelischer Behörden verabreicht wurde. "Unter Zwang", sagt Mangoli, die den Skandal vor mehr als sechs Jahren enthüllt hat.

Viele Frauen haben seitdem ausgesagt. Sie wurden unter Druck gesetzt, das Mittel zu nehmen, und wurden nicht über Nebenwirkungen und Alternativen aufgeklärt. Jahrelang hielten sie aus Angst vor Konsequenzen still. Bis eine Fernsehreportage das Thema vor kurzem wieder zum Diskussionspunkt machte. Nun hat auch das israelische Gesundheitsamt zugegeben, die Spritzen verabreicht zu haben. Alle Ämter wurden angewiesen, Depo-Provera nicht mehr zu spritzen, sofern Verdacht besteht, dass die Frauen nicht ausreichend darüber Bescheid wissen. "Warum es dazu gekommen ist? Weil sie schwarz und schwach sind", sagt Mangoli im Jugendzentrum der Zionistischen Weltfrauenorganisation in Pardes Katz, einem heruntergekommenen Viertel außerhalb von Tel Aviv. "Das ist Rassismus. Politik hat den Körper dieser Frauen kontrolliert."

Sozialarbeiterin Rachel Mangoli fiel die ungewöhnlich niedrige Geburtenrate unter äthiopischen Frauen auf.
© Andreas Hackl

Kaum Geburten

Pardes Katz wurde vor sechs Jahren zur neuen Heimat von mehr als 50 Familien, die wie alle äthiopischen Einwanderer der vergangenen Jahre schon im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Einfluss von Missionaren zum Christentum konvertierten. Um die israelische Staatsbürgerschaf zu bekommen, müssen sie nach der Einreise in eigenen Zentren in das orthodoxe Judentum zurückkonvertieren. Die Familien von Pardes Katz sind Teil der letzten 8000 Äthiopier, die Israel seit 2010 noch ins Land lässt.

Schon in den 1980ern und 1990ern wurden mehr als 30.000 äthiopische Juden eingeflogen. Doch der Traum von der schönen neuen Heimat blieb für viele unerfüllt: Mehr als die Hälfte der 125.000 äthiopischen Israelis leben unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenrate ist doppelt so hoch wie bei anderen jüdischen Israelis. "Sie sind aus der Dritten Welt direkt in die Dritte Welt gekommen", meint Mangoli.

Politik am Körper

Vollgefüllt mit Spielsachen sieht ihr Büro aus wie ein Kinderzimmer. Denn hier betreut sie seit 2006 die äthiopischen Familien im Viertel. Genau hier hatte sie auch das entscheidende Aha-Erlebnis. "Das hier sollte ja ein Jugendzentrum sein. Aber in drei Jahren brachten die Frauen nur ein einziges Kind zur Welt. Das schien mir merkwürdig." Dann ging sie mit einer der Frauen zum Arzt und erfuhr dabei zum ersten Mal von den regelmäßigen Depo-Provera-Spritzen. Plötzlich ergab der 20-prozentige Rückgang der äthiopischen Geburtenrate der vergangenen zehn Jahre einen Sinn. Von den schweren Nebenwirkungen des Mittels wussten die Frauen jedoch ebenso wenig wie von anderen Langzeitverhütungsmethoden, wie etwa der Hormonspirale.

Schon damals versuchte Mangoli, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Doch erst eine Fernsehreportage der israelischen Journalistin Gal Gabay und die intensiven Recherchen dafür haben aus dem Randthema nun einen heiß diskutierten Skandal gemacht. Die äthiopische Israelin und Journalistin Sebba Reuven recherchierte für die TV-Reportage, in der 35 Frauen auspacken. "Wir wissen, dass sie in den Lagern in Äthiopien gezwungen wurden. Und wir haben ein Schreiben des israelischen Gesundheitsamts gefunden, das der Klinik in Äthiopien für die gute Arbeit dankt", sagt Reuven.

Die Hauptkritik ist nicht, dass Frauen Verhütungsmittel verabreicht wurden. Denn viele von ihnen wollen durchaus verhüten, auch wenn ihre Ehemänner das meist nicht wissen dürfen. Empörend ist vielmehr, dass schwarze, sozial schwache Frauen zum Opfer einer offiziellen Praxis wurden, die den weiblichen Körper als Projektionsfläche für Bevölkerungspolitik missbraucht.

"Man könnte zwar sagen, Verhütung macht Frauen freier. Doch das Problem ist, dass ihnen die Freiheit geraubt wurde, darüber zu entscheiden", sagt Hedva Eyal von der israelischen Organisation Isha Le-Isha - "Frau für Frau". Als Autorin eines Berichts über Depo-Provera bei israelischen Äthiopierinnen spricht sie klar von "Rassismus und selektiver Bevölkerungspolitik" gegenüber sozial Schwachen. "Mehr als die Hälfte der Frauen, die das Mittel in Israel bekommen, sind Afrikanerinnen. Wie kann es sein, dass sonst kaum eine Frau hier Depo-Provera kennt, alle äthiopischen Frauen aber schon?"

In der problematischen Anwendung des Langzeitverhütungsmittels ist Israel nicht allein. Depo-Provera wurde in den USA entwickelt, an Frauen aus der sozialen Unterschicht getestet und später in Entwicklungsländer exportiert. In Südafrika wurde es schwarzen Frauen unter Zwang verabreicht. Anderswo geht die rassistische Bevölkerungspolitik weiter, woran auch Berichte über Zwangssterilisierungen von Roma-Frauen in der Slowakei erinnern.