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Ist das Land reif für eine Staatspräsidentin?

Von Micaela Taroni

Politik

Rom · Carla Voltolina, Witwe des italienischen Staatsoberhaupts Sandro Pertini (1978 bis 1985), hatte im Mai 1992 kurz vor der Wahl des noch amtierenden Präsidenten Oscar Luigi Scalfaro | prophezeit, daß in sieben Jahren die Zeit für die Wahl der ersten Staatschefin in der italienischen Geschichte reif sein würde. Wenige Tage vor Beginn der neuen Präsidentenwahl treten drei Frauen in | die enge Wahl der Kandidaten für die italienische Präsidentschaft.


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Zunehmende Chancen, zur ersten Staatspräsidentin Italiens gekürt zu werden, räumen politische Beobachter der 63jährigen Innenministerin Rosa Russo Jervolino ein. Laut jüngster Umfragen

würden 21 Prozent der Wahlmänner im römischen Parlament die Spitzenpolitikerin der katholischen Volkspartei (PPI) gern zur Staatschefin wählen. Jervolino, ehemalige Schul- und Sozialministerin,

zählte zu den angesehensten Persönlichkeiten der vor sechs Jahren aufgelösten Democrazia Cristiana, der Partei, der sie im Jahr 1954 beigetreten war.

Die aus Neapel stammende Jervolino, Witwe und Mutter von drei erwachsenen Kindern, hat familiäre Beziehungen zu Österreich. Ihr Großvater mütterlicher Seite stammte nämlich aus Wien. Im Oktober des

vergangenen Jahres wurde sie von Regierungschef Massimo D'Alema zur ersten Innenministerin in Italien ernannt. In dieser Rolle hat sie turbulente Zeiten hinter sich. Jervolino, seit Monaten in

vorderster Front im Kampf gegen Kriminalität und organisiertes Verbrechen, ist dieser Tage mit der humanitären Hilfsaktion "Regenbogen" in Albanien voll im Einsatz.

Der Innenministerin werden bei der Präsidentenwahl große Chancen eingeräumt, da ihre Volkspartei, die den gemäßigten Pol in der Regierungskoalition "Ölbaum" repräsentiert, den Posten des Staatschefs

beansprucht, nachdem der Post-Kommunist Massimo D'Alema · Ex-Chef der Demokratischen Linken (DS, stärkste Regierungspartei) · die Führung der Regierung übernommen hat. Die Wahl eines Katholiken sei

laut der Volkspartei notwendig, um in den italienischen Staatsinstitutionen das nötige Gleichgewicht zwischen Laizisten und Katholiken zu bewahren. Jervolino muß jedoch mit der Konkurrenz ihres

Parteikollegen Nicola Mancino rechnen, der als amtierender Senatspräsident ebenfalls für den Posten des Staatschefs ins Gespräch gekommen ist.

Eine andere Frau, die für den Präsidentenposten in Erwägung gezogen wird, ist die EU-Kommissarin für humanitäre Angelegenheiten Emma Bonino. Würde der italienische Staatschef von den Bürgern

direkt gewählt, würde Bonino sehr wahrscheinlich Italiens höchstes politisches Amt erobern. Meinungsumfragen zufolge würde Bonino 42 Prozent der Stimmen erhalten, sollte heute die Direktwahl des

Staatspräsidenten eingeführt werden. Da der Staatschef in Italien jedoch immer noch vom Parlament mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt wird, hat Bonino wenig Chancen, von Brüssel nach Rom zu

ziehen. Die 50jährige Bonino, die sich für Frauenrechte, Abtreibung und Ehescheidung stark machte, ist mit der Opposition katholischer Kreise konfrontiert, die ihre Kandidatur mit einer

scharfen Kampagne boykottieren.

Eine dritte Frau hat politischen Beobachtern zufolge einige Aussichten, in den römischen Quirinalpalast einzuziehen: Tina Anselmi, im Jahr 1964 erste Ministerin der italienischen Republik. Da die

71jährige Anselmi zu den Spitzenpolitikerinnen der katholischen Volkspartei zählt, könnte sie zahlreiche Stimmen im Parlament gewinnen.

Gute Chancen werden aber auch Reformenminister Giuliano Amato eingeräumt, da sich der neue italienische Staatspräsident in den nächsten Monaten vor allem mit Verfassungsreformen

auseinandersetzen muß. Amato, der zu Italiens angesehensten Verfassungsexperten zählt, gilt vor allem in linksorientierten Kreisen als geeignetster Kandidat für das Präsidentenamt. Amato, der 1993

eine Expertenregierung führte, ist der Autor eines Entwurfs zur Wahlrechtsreform, den das Kabinett D'Alema übernommen hat. Ihm verdankt Italien die lebhafte Debatte über die Möglichkeit, erstmals

eine Frau zur Staatschefin zu wählen. Im vergangenen November hatte sich Amato entschlossen dafür ausgesprochen, eine Politikerin zur Präsidentin zu wählen.