Um die Nachteile der Demokratie zu verstehen, soll Winston Churchill gesagt haben, genüge "ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler". Ein flüchtiger Blick in den innenpolitischen Teil einer beliebigen österreichischen Tageszeitung erzielt leider gelegentlich den gleichen pädagogischen Effekt.
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Dass zum Beispiel die Bundesregierung nicht imstande ist, gemeinsam mit dem Landeshauptmann im Burgenland ein dringend nötiges Asylzentrum zu errichten, ohne eine kleine Staatskrise auszulösen, weil alle Beteiligten panische Angst vor Churchills Durchschnittswähler haben, könnte man als unvermeidbaren Programmfehler im demokratischen Betriebssystem beschreiben. Wo der politischen Klasse jeglicher Mut fehlt, zumindest gelegentlich unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen zu treffen, degeneriert Demokratie zur Verantwortungs-Entsorgungsanlage und delegitimiert sich damit bis zu einem gewissen Grad selbst.
"Hier zieht mein Volk, ich muss ihm nach, ich bin sein Führer", beschrieb der französische Spötter und Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord diese Haltung vor rund 200 Jahren, als kommentierte er Österreichs heutige politische Realität. Dabei geht es ja nicht nur um das vergleichsweise unbedeutende Asylzentrum im Burgenland, sondern um jede potenziell unpopuläre Entscheidung vom Pensionsrecht bis zum Spitalswesen. Fast immer mangelt es nicht am Wissen um die richtige Lösung, sondern wie man nach der notwendigen Umsetzung wiedergewählt wird.
Dieses "Government by Talleyrand" ist schon zu normalen Zeiten ein Ärgernis. Doch wir leben jetzt nicht in normalen Zeiten. Die nächsten Jahre werden den Regierenden eine ganze Reihe äußerst unpopulärer, ab letztlich unumgänglicher Entscheidungen abverlangen. Zwar konnte 2009 der völlige wirtschaftliche Kollaps vermieden werden - doch die gewaltigen Kosten, die das verursacht hat, müssen nun ja erst verteilt und getragen werden. Politisch heißt das: zu entscheiden, wer wie viel bezahlen muss, wessen Wohlstand wie beschnitten wird. Dass sich jede nur denkbare Gruppe dagegen wehren wird, zur Kasse gebeten zu werden, ist ebenso erwartbar wie legitim; Streiks und sozialer Aufruhr inbegriffen. Es wird dies wohl eine Stunde der Bewährung sein: Gegen die Aufgabe, dem Wähler notwendige, erhebliche finanzielle Opfer zur Bewältigung der Krise schmackhaft zu machen, ist die Causa Asylzentrum geradezu eine politische Petitesse.
Dass Demokratie aber nicht zwingend Führungsschwäche bedeutet, haben gerade in historischen Stunden Politiker immer wieder bewiesen: Franz Vranitzky und Alois Mock, indem sie eine skeptische Nation in die EU bugsierten - oder früher Helmut Kohls entschlossene deutsche Wiedervereinigung bei Gegenwind ebenso wie Willy Brandts umstrittene Ostpolitik der 1970er Jahre. Sie alle zeigten, dass Mut vor dem Wähler nicht zwingend zum Amtsverlust führen muss. Ob das derzeitige politische Personal über derartige Qualitäten verfügt, werden wir ziemlich bald wissen - ob wir wollen oder nicht.
"Warum die nächsten Jahre zu einer Bewährungsprobe für die
Demokratie werden könnten."
"Zu viel Angst vor dem Wähler macht aus
Demokratie eine
Verantwortungs-
Entsorgungsanlage."