Muss Tschechien seine geplante Beteiligung am US-Raketenabwehr-system tatsächlich in der EU nicht zur Diskussion stellen? Zumindest Tschechien geht davon aus. | Die europarechtliche Ignoranz einiger Regierungschefs von EU-Mitgliedstaaten verblüfft immer wieder. So erklärte der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek am 17. April 2007 anlässlich seines offiziellen Besuches in Schweden doch allen Ernstes, "dass die Tschechische Republik ihre geplante Beteiligung am US-Raketenabwehrsystem nicht im Rahmen der EU diskutieren will".
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Mit dieser Aussage wird die grundsätzliche Frage aufgeworfen, inwieweit es heute einem Mitgliedstaat der EU noch möglich ist, im Rahmen der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) sowie der "Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (GESVP) eine autonome Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu betreiben. Kann ein EU-Mitgliedstaat im Rahmen der "Zweiten Säule" der EU nach wie vor eine eigenständige Außenpolitik führen, oder hat sich die GASP beziehungsweise die GESVP bereits derart verdichtet, dass das nicht mehr zulässig ist?
Rein begrifflich würde man wohl annehmen, dass GASP und GESVP ihren Namen nicht verdienen würden, wenn sie nationale außen- und sicherheitspolitische Alleingänge eines Mitgliedstaates tolerieren würden. In Wirklichkeit ist die Lage differenzierter.
"Allgemeine Bedeutung"
Gemäß Artikel 16 des EU-Vertrages "findet zu jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung im Rat eine gegenseitige Unterrichtung und Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten statt". Damit soll gewährleistet werden, "dass der Einfluss der Union durch konzertiertes und konvergierendes Handeln möglichst wirksam zum Tragen kommt".
Handelt es sich also um eine außen- und sicherheitspolitische Frage von "allgemeiner Bedeutung", dann darf der betroffene Mitgliedstaat nicht mehr autonom vorgehen, sondern muss seine Politik im Rat zur Diskussion stellen. Die Gretchenfrage dabei ist: Was ist denn eigentlich unter einer Frage von "allgemeiner Bedeutung" zu verstehen, und wer ist dafür zuständig, dies im Zweifelsfall verbindlich festzustellen?
Da Artikel 16 EU-Vertrag darüber keine Aussage trifft, muss sein Sinn interpretativ ermittelt werden. Eine Eigeneinschätzung durch den betroffenen Staat - der naturgemäß kein Interesse daran haben wird, im Rat alle seine nationalen Motive und Interessen offen zu legen - scheidet aus. Letztlich würde dieses Vorgehen die Bestimmung völlig ihres Sinns entkleiden. Daher kommt nur eine Fremdeinschätzung in Frage. Das dafür zuständige Organ ist zweifellos der Rat. Denn in seinem Schoß hat die gegenseitige Unterrichtung und Abstimmung der vielfältigen Standpunkte stattzufinden. Da für die Willensbildung im Rat kein spezielles Konsens-Quorum festgelegt wird, hat man nach allgemeinen Verfahrensgrundsätzen von einer absoluten Mehrheit auszugehen.
Damit kann die wichtige und bisher noch nie relevierte Aussage gemacht werden, dass ein EU-Mitgliedstaat dann nicht mehr in der Lage ist, eine autonome Außenpolitik zu betreiben, wenn die (absolute) Mehrheit von mindestens vierzehn Ratsmitgliedern feststellt, dass es sich dabei um eine außen- und sicherheitspolitische Frage von "allgemeiner Bedeutung" handelt. Wenn ein Mitgliedstaat dann dem Verlangen nach einer Diskussion im Rat nicht nachkommt, verletzt er nicht nur Artikel 16 EU-Vertrag sondern auch das allgemeine Loyalitäts- und Solidaritätsgebot in der "Zweiten Säule" der EU.
Gezwungen kann ein Mitgliedstaat allerdings nicht werden, im Rat vorstellig zu werden, ebenso wenig wie er dafür verklagt werden kann, da der Europäische Gerichtshof in der "Zweiten Säule" der EU nicht zuständig ist.