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Wenn es sein muss, muss es sein. Gezwungenermaßen stiegen gestern die meisten ÖsterreicherInnen auf andere als öffentliche Verkehrsmittel um. Zu Fuß oder per Rad gelangten sie an ihren Arbeitsplatz. Und wenn jemand gar nicht von zu Hause wegkonnte, nahm er sich frei. Die Aufregung über die Protestmaßnahmen der Gewerkschaft hielt sich in Grenzen, wie eine Blitzumfrage auf den Straßen Wiens ergab.
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Wien ist eine große Stadt. Das weiß der Pfleger, der gestern zwei Stunden vom 20. Bezirk in die Rudolfstiftung ging. Oder Sveta. Sie ist gerade seit drei Stunden zu Fuß unterwegs. Sie muss zum Arzt, und der ist im 3. Bezirk. Sie selbst wohnt im 16. "Mein Mann muss arbeiten, meine Tochter muss arbeiten, und ich habe heute frei. Dafür muss ich zum Arzt." Der Termin wurde um eine halbe Stunde verschoben. Jetzt kann sie auch noch spazieren gehen.
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Wer den Weg über den Botanischen Garten nehmen möchte, steht vor verschlossenen Toren. Die zwei Arbeiter dahinter reagieren mit Unverständnis auf die Frage. Warum zu sei? "Weil hier gestreikt wird." Vor dem Eingang zum Garten des Belvedere gibt es mehr Information. Von dem Abwehrstreik seien auch die Bundesgärten Augarten, Burggarten/Volksgarten, Belvedere und Schönbrunn betroffen, ist zu lesen. Daher sei das "Angebot von Dienstleistungen" eingeschränkt. Und: "Da auch die meisten Besucher von der Pensionsraubreform der Regierung betroffen sind, appellieren wir an Ihre Solidarität". Die Kanalarbeiten gehen dennoch weiter.
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Die U-Bahn-Station ist zu, die Bäckerei drinnen auch. Am Südbahnhof wird gereimt: "Kämpf' um dein Recht, denn diese Reform ist schlecht", prangt auf geschlossenen Schalterfenstern und Fahrplänen. Drei Gäste sitzen im Kaffeehaus. Knapp kommentiert die Kellnerin, wie das Geschäft läuft: "Traurig." Deswegen wird das Kaffeehaus schon um 15 Uhr zugesperrt. Für den Streik hat sie vollstes Verständnis. "Er ist richtig. Ein Generalstreik gehörte her, alles müsste zu sein." Ein Gast gibt ihr Recht. Er muss nach Niederösterreich fahren und sitzt derzeit am Südbahnhof fest. Als Ausweg bleibt ihm nur das Autostoppen. Er macht sich nicht nur Gedanken über die Pensionsreformpläne, sondern über das politische Klima allgemein. Dieses habe sich massiv verschlechtert. "Ein großes Problem sind auch die Privatisierungen: Was nutzt es, Bahn und Post zu verkaufen?"
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Kein Verständnis für den Streik hat wiederum die junge Trafikantin. "Grausam" sei es fürs Geschäft. Warum sie nicht geschlossen habe? Gegenfrage: "Warum soll ich zu haben, wenn die anderen spinnen?" An der Situation werden die Aktionen nichts ändern, meint die Frau. Sie sieht auch nicht ein, warum einen Tag lang das öffentliche Leben lahm gelegt werde. Zwei Stunden früher war sie in der Arbeit. "Mein Mann hat mich mit dem Auto mitgenommen. Wie ich wieder heimkomme, weiß ich nicht."
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Nichts anfangen mit den Protestmaßnahmen kann auch Sylvia, die zu Fuß gerade am Opernring unterwegs ist. Die junge Frau kommt von außerhalb Wiens und arbeitet in einer Steuerberatungskanzlei. Eigentlich hätte sie heute im Büro früher Schluss machen können, der Streik der "Öffis" macht diesen Plan wohl zunichte, befürchtet sie. Inhaltlich steht sie dem Streik unentschlossen gegenüber: Sie hat schlicht ihre Zweifel, ob sich dadurch etwas ändern lasse.
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Genau umgekehrt sieht das Martin am Schwarzenbergplatz. Dank Streik und eigenem Auto war der Rechtsanwalt heute sogar schneller an seinem Arbeitsplatz als sonst üblich. Abgesehen davon hat er jedoch für die Aktionen der Gewerkschaft nichts übrig: An der Notwendigkeit einer Pensionsreform zweifelt er nicht, die Proteste dagegen bezeichnet er als "Obstruktionspolitik".
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Nur wenige hundert Meter weiter, am Beginn der Prinz-Eugen-Straße, hat Johannes eine gänzlich andere Sicht der Dinge. Mit dem Fahrrad unterwegs ist der junge Verkäufer in Schweiß gebadet und ganz schön außer Atem. Von negativen Folgen des Streiks kann er für sich nichts berichten, schließlich ist er auch sonst nicht auf die "Öffis" angewiesen. Das könne er von den Pensionsplänen der Regierung nicht behaupten. Auch er befürchtet dadurch Einbußen für seine Altersvorsorge, weshalb er es gutheißt, dass sich der ÖGB dagegen zur Wehr setzt.
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Weiter oben, schon fast am Wiedner Gürtel, begegnet uns Astrid mit ihren zwei kleinen Kindern. Sie hat gerade einen Fußmarsch von zwei Mal 45 Minuten hinter sich, um die beiden Kleinen zur heiß geliebten Musikstunde und wieder zurück zu bringen. Deswegen wollte sie sich gestern beim ÖGB darüber beschweren, dass heute keine "Öffis" fahren. Doch dort habe man ihr erklärt, die Gewerkschaft könne nichts dafür, verantwortlich seien die "Wiener Linien". Aber auch inhaltlich geht sie mit der Gewerkschaft nicht konform. Eine schmerzhafte Pensionsreform hält sie für unabdingbar. Sie habe schon vor Jahren begonnen, privat vorzusorgen.