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Die EU ist mehr als die Summe ihrer Handelsbilanzen. Europa auf wirtschaftliche Vorteile zu reduzieren, wäre zu wenig.
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In seinem Essay "Note (ou L’Européen)", der 1924 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs erschienen ist, machte sich der französische Lyriker und Philosoph Paul Valéry ein paar grundlegende Gedanken über Europa. "Was ist dieses Europa also?", fragte der Autor, um sogleich zu antworten: "Es ist eine Art Kap des alten Kontinents, ein okzidentales Anhängsel Asiens."
Valérys beklemmende Mahnung von Europa als kleinem Kap Asiens erscheint in diesen Tagen aktueller denn je: Großbritannien hat für den Austritt aus der EU gestimmt, das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen Ceta konnte nur mit Mühe besiegelt werden, nachdem die Wallonie ihr Veto eingelegt hatte. Und das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA liegt derweil auf Eis. Die Welt schaut mit Verwunderung auf die Kleinstaaterei Europas, das im Außenhandel handlungsunfähig ist.
Großbritannien, das von Anbeginn mit einem Bein aus der EU war und Brüssel mehr als Kostenabrechnungsstelle als gemeinsamen Politikbetrieb sah, vollzieht nun den endgültigen Bruch und orientiert sich an den Wachstumsmärkten Asien und Australien.
Nun ist es zweifellos wichtig, dass Europa im Konzert der großen Mächte mit einer Stimme spricht und bei der Bewältigung globaler Krisen wie dem Klimawandel als geschlossener Akteur auftritt. Doch Europa ist mehr als die Summe seiner Handelsbilanzen. Man konnte bei den Verhandlungen über TTIP und Ceta den Eindruck gewinnen, als ginge es nur noch um (neo-)liberale Konzepte wie Marktzugang und Schiedsgerichte. Das trieb die Menschen auf die Straße, und es war gut, dass dieser Protest artikuliert wurde. Europa schrumpft im permanenten Rettungsmodus auf einen Formelkompromiss zusammen, hinter dem sich die Staats- und Regierungschefs zähneknirschend versammeln. Die Angela Merkels Sentenz "Scheitert der Euro, scheitert Europa" ist im Grunde eine normative Bankrotterklärung.
Der Schriftsteller Navid Kermani schrieb in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dazu einen klugen Satz: "Wer Europa auf den ökonomischen Vorteil reduziert, steht mit leeren Händen da, wenn die Bilanz nicht mehr stimmt." Europa bedeutet mehr: Aufklärung, Menschenrechte, Reformation, Humanismus, Wissenschaft, aber auch die beiden Weltkriege, deren Schrecken zunehmend verblasst. Frieden ist heute genauso zu einer Selbstverständlichkeit geworden wie der Starbucks-Kaffee in Europas Innenstädten. Dass beides - politische Stabilität und wirtschaftliche Freiheit - einander bedingt, wird oft übersehen.
Europas größte Gefahr ist nicht, dass es den Anschluss an die Weltmärkte verpasst, sondern dass es seine eigene Geschichte vergisst. Auf die Frage, was Europa eigentlich bedeutet, hatte Valéry eine überzeugende Antwort parat: "Europa nimmt sich ein bisschen wie eine gigantische Stadt aus. Sie hat ihre Museen, ihre Gärten, ihre Ateliers, ihre Laboratorien und ihre Salons. Sie hat Venedig, Oxford, Sevilla, Rom und Paris." Es sind die Leuchttürme europäischer Zivilisation, die bis in alle Kontinente strahlen. Diesen Satz sollten sich alle Bürger und Politiker Europas ins Stammbuch schreiben.