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Ja, aber wie es wird, weiß keiner

Von Martyna Czarnowska, Posen

Europaarchiv

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Kurz bevor der Werbespot anläuft, möchte Krzysztof den Fernsehsender wechseln. Auf meine Bitte unterlässt er es. Ich möchte sehen, wie die Regierung ihre groß angekündigte Informationskampagne umsetzt. Vor dem Referendum am 8. Juni, bei dem die polnische Bevölkerung über den EU-Beitritt abstimmen soll, gilt es, die Menschen auf eine neue Situation vorzubereiten, Ängste abzubauen und Vorteile herauszustreichen. In den kurzen Werbeblöcken kommen Kleinunternehmer zu Wort, die ihre Chancen in der Union vergrößert sehen, Landwirte, die von Subventionen profitieren und Priester, die beruhigt werden, dass sich die EU in nationale Glaubens- und Abtreibungsfragen nicht einmischen werde.

"Reine Propaganda", kommentiert Krzysztof, der den Spots keine Beachtung mehr schenkt. Seiner Meinung nach überwiegen die Vorteile eines EU-Beitritts keineswegs die Nachteile. Und anders als im staatlichen Fernsehen dargestellt, werde die Union mehr Nutzen daraus ziehen als Polen selbst.

Krzysztof holt aus: Polen verfüge kaum über Kapital, dieses müsse für notwendige Investitionen aus dem Ausland geholt werden, die Beteiligung ausländischer Firmen am polnischen Markt werde noch vergrößert, viele Menschen hätten Angst, zu "ZuarbeiterInnen" im eigenen Land zu werden. Es sei nicht die Furcht vor Konkurrenz, mit der Polen schon seit 13 Jahren im System der freien Marktwirtschaft konfrontiert ist. Es sei die Furcht vor fremder Dominanz.

Dies werde vielleicht den Unternehmungsgeist einiger fördern, andere könnten dabei jedoch auf der Strecke bleiben. So wie etliche dem Tempo des Umgestaltungsprozesses nicht nachgekommen sind, der nach 1989 eingeleitet wurde.

Zu dieser Gruppe gehört Krzysztof nicht. Der 40-jährige HNO-Arzt betreibt mit einem Kollegen seit einigen Jahren eine Gemeinschaftspraxis in Posen, beschäftigt sich zusätzlich mit der Distribution von Hörgeräten. Von den Möglichkeiten, die sich nach der Teilprivatisierung der Spitäler für ihn aufgetan haben, hat er Gebrauch gemacht. Seine bald vierköpfige Familie kann er durch seine Arbeit problemlos allein ernähren.

Doch die Not ist groß in Polen, höre ich von vielen Seiten. Sogar hier, in der Woiwodschaft Großpolen, wo schon immer die besseren Autos fuhren und die besser angezogenen Menschen lebten. In Posen, der Hauptstadt der Region, hat es schon immer mehr Geld gegeben, heißt es. Es ist eines der reichsten Gebiete Polens; die Arbeitslosigkeit ist mit 14 bis 16 Prozent halb so hoch wie in südlichen und östlichen Teilen des Landes.

Aber auch hier blockierten vor kurzem tausende LandwirtInnen die Straßen und verlangten einen höheren Preis für Schweinefleisch. In Posen protestierten LKW-FahrerInnen gegen allzu hohe Steuern, die das Transportgeschäft noch unrentabler machten. Gestreikt haben in Polen auch schon Bergarbeiter, LehrerInnen, KrankenpflegerInnen, WerftarbeiterInnen - kaum eine Berufsgruppe, die in den letzten Jahren ihre Unzufriedenheit nicht zum Ausdruck gebracht hätte.

Das Mindesteinkommen liegt bei 500 Zloty (rund 120 Euro); eine überdurchschnittliche Monatsmiete kann dies schon verschlingen. Der Einkommensschnitt beträgt vielleicht drei mal so viel.

Rund 1.500 Zloty bleiben auch Zbigniew - nach Abzug von Steuer, Reparaturkosten etc. Zbigniew, 45 Jahre alt, ist Taxifahrer und selbstständig. Das hat auch seine guten Seiten, erzählt er. Denn so hat er keinen Chef über sich, und manchmal kann er sich in Deutschland zwei, drei Monate lang etwas dazuverdienen. Doch - wie etliche seiner Landsleute - schaut er lieber zurück als nach vorne. "Früher war die Stabilität höher", erklärt er. "Dass es grau und monoton war? Stimmt. Doch soziale Sicherheit war gegeben." Das Wichtigste wäre, dass Polen zu einer Normalität zurückfinde, meint Zbigniew. Ob der Beitritt zur EU dabei helfen werde? Schwer zu sagen. Ihm selber werde es jedenfalls wohl nichts mehr bringen. "Das ist was für die Jungen."

Ähnlich denkt die 82-jährige Pensionistin, die auf einer Bank im Supermarkt auf ihre Bekannte wartet. Sie sei schon zu alt, um eine Meinung über die Europäische Union zu haben, sagt sie. Sollen doch die Jungen entscheiden. Zum Referendum will die Frau dennoch gehen, auch wenn sie dessen Ausgang schon entschieden sieht. "Die Regierung zwingt uns in die Union. Was würde da ein "Nein" nützen?"

Ob sie für oder gegen den EU-Beitritt stimmt, weiß die 46-jährige Hania noch nicht. Sie hat eigentlich auch andere Sorgen - etwa die hohen Abgaben, die sie jeden Monat zahlen muss. 600 Zloty, das müsse eine Selbstständige erst einmal verdienen! Wie ein paar andere steht Hania vor ihrem Stand und ermuntert die Vorübergehenden, die Produkte zu erstehen, die aus ihrer Ortschaft in den Bergen stammen: geräucherte Käsestücke, Pullover, mit Fell ausgelegte Hausschuhe. In der Tatra betreibt sie mit ihrem Mann eine kleine Landwirtschaft; sie bauen Kartoffeln an, haben ein paar Schweine, kommen so über die Runden. Wenn die Arbeit am Feld es erlaubt, steigt Hania am Sonntag Abend in den Zug ins 300 Kilometer entfernte Posen, um hier fünf Tage lang ihre Waren anzubieten.

Dem EU-Beitritt sieht sie mit Skepsis entgegen. "Polen ist doch ein armes Land", gibt sie zu bedenken. "Und ein Beitritt zur Union kostet." Die Leute sagen sogar, dass es ihnen in der EU noch schlechter gehen werde. Vielleicht bringe es etwas für die Jungen. "Aber die gehen ja jetzt schon ins Ausland, weil die heimischen Einkommen so niedrig sind."

Woanders zu arbeiten, könnte auch Piotr gefallen. Theoretisch. Denn heuer macht er zunächst einmal die Matura. Dann will er Elektrotechnik studieren oder ähnliches. In Tschenstochau, wo er mit seinen Eltern wohnt. Lieber wäre er zwar in der größeren, 600.000-EinwohnerInnen-Stadt Posen, wo er Bekannte hat und ihm die Menschen netter erscheinen. Doch in Tschenstochau ist das Studienniveau hoch und es ist billiger.

Was den EU-Beitritt anbelangt, fühlt Piotr sich desorientiert. "Wahrscheinlich wird Polen gar nichts davon haben", sinniert er. Das Land werde arm bleiben, den Menschen werde es weiter schlechter gehen als etwa in Deutschland, wo es noch immer leichter sei, Arbeit zu finden. Von den Möglichkeiten in der EU werden diejenigen profitieren, die Polen verlassen. Doch dafür seien Fremdsprachenkenntnisse notwendig, stellt Piotr fest und führt weiter aus: Am Besten wäre es, Bekannte im Ausland zu haben, wo sich wohnen lässt, dort die Sprache zu lernen und zu arbeiten. Ob er selber gerne weggehen würde? Ja, warum nicht, wenn sich so eine Gelegenheit ergäbe. Am liebsten nach - Amerika.

Solche Überlegungen stellt der 30-jährige Jarek nicht mehr an. Mit seiner Frau Renata und dem halbjährigen Sohn ist er gerade in eine größere Wohnung gezogen. Jarek ist bei einer Bank angestellt. Für Renata läuft die 26-wöchige Karenzzeit gerade aus, nächste Woche wird sie wieder als Schulpsychologin arbeiten.

Beide wollen am Referendum zum EU-Beitritt teilnehmen, beide wollen "Ja" ankreuzen. Noch bevor ich die Frage stellen kann, sagt Renata: "Ich überlege gerade selber, warum ich dafür bin. Das erste, was mir einfällt, sind die Erleichterungen beim Reisen. Wir werden uns an der Grenze nicht mehr in einer Schlange anstellen müssen, während andere mit EU-Pässen einfach durchgewunken werden." Sie ist außerdem dafür, dass in etlichen Bereichen - wie Schulen - EU-Standards eingeführt werden.

Jarek spricht aus, was wohl etliche fühlen und was ausschlaggebend dafür sein könnte, dass sich die Mehrheit für einen Beitritt ausspricht - wenn auch mit teils großen Bedenken. Es gebe schlicht keine annehmbare Alternative zur Mitgliedschaft in der Union. "Andernfalls würde Polen an den Rand Europas gedrängt." In der EU hingegen könnte das Wirtschaftswachstum sich verbessern, obwohl klar sei, dass sich nicht alles von einem Tag auf den anderen ändern werde.

Auch Krzysztof, der Arzt, wird wahrscheinlich beim Referendum seine Zustimmung zum EU-Beitritt geben. Dieser ist für ihn das "kleinere Übel". Einen Funken Hoffnung gebe es allemal: Vielleicht werde es endlich weniger Bürokratie geben, könnten notwendige Reformen tatsächlich umgesetzt werden. Bis zum Referendum stehe alles still, die Regierung arbeite lediglich darauf hin, die Bevölkerung zum "Ja" zu bewegen.

Zunächst gilt es aber die Hürde der Frequenz zu nehmen: 50 Prozent der Wahlberechtigten (plus eine Person) müssen sich an der Volksabstimmung beteiligen, damit diese gilt. Das Ergebnis ist bindend. Nach aktuellen Umfragen ist eine knappe Mehrheit für den Beitritt.

Auf der Rückreise nach Wien komme ich mit Michail, einem in Polen studierenden Ukrainer, ins Gespräch. Er wundert sich. Er versteht nicht, wie Pol-Innen gegen einen EU-Beitritt sein können. "In Polen jammern sie, dass es ihnen schlecht geht", schüttelt er den Kopf. Die sollten sich einmal die Ukraine anschauen.

Die Serie wird kommenden Freitag mit "Tschechien" fortgesetzt.