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Ja, Wohlstand ohne Wachstum ist möglich!

Von Giorgos Kallis und Research & Degrowth

Gastkommentare

10 Vorschläge für die Politik der Neuen Linken.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In unserem kürzlich erschienenen Buch "Degrowth. A Vocabulary for a New Era", zeigen wir auf, dass Wirtschaftswachstum in Industriestaaten immer schwieriger aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig weder sozial noch ökologisch nachhaltig ist. Weltklima, Wohlfahrtsstaat und über lange Zeit gewachsener sozialer Zusammenhalt werden allerorts leichter Hand dem Wachstumswahn geopfert.

Theoretisch wird Wirtschaftswachstum gebraucht, um Schulden zu reduzieren, neue Arbeitsplätze zu schaffen oder die Einkommen der Armen zu erhöhen. In der Praxis blicken wir jedoch auf Jahrzehnte des Wachstums zurück und sind noch immer verschuldet; unsere Jugend ist arbeitslos und die Armutsraten sind so hoch wie eh und je. Ursprünglich einmal hatten unsere Nationen sich verschuldet, um zu wachsen; nun sind sie gezwungen zu wachsen, um unsere Schulden zu bedienen.

Degrowth ist der Aufruf, unsere soziale Vorstellungskraft von einer Ideologie zu befreien, in der unsere Zukunft eine allein auf Wachstum ausgerichtete Einbahnstraße ist. Degrowth ist deshalb keinesfalls dasselbe wie Rezession. Es ist vielmehr die Hypothese, dass Wohlstand auch ohne Wirtschaftswachstum möglich ist.

Mit anderen Worten: sinnstiftende Arbeit verrichten zu können, ohne auf unbegrenztes Wachstum angewiesen zu sein; einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat zu erhalten, ohne dass die Wirtschaft jedes Jahr größer wird; sozialen Ausgleich zu schaffen und Armut zu beseitigen, ohne jährlich mehr und mehr Geld ansammeln zu müssen.

Degrowth stellt somit nicht nur die Ergebnisse und Auswirkungen des Kapitalismus infrage, sondern den ihm zugrundeliegenden Geist. Denn Kapitalismus kennt keine Grenzen, sondern nur Ausdehnung und Produktion, die gleichzeitig zerstört.

Degrowth bietet hier einen neuen Diskurs für eine  linke Bewegung, die über den Kapitalismus hinausgehen möchte, ohne die autoritäre oder produktivistische Praxis des real existierenden Sozialismus nachzubilden.

Gerade jetzt erfährt eine neue Linke – neu im Sinne von Ideen, aber auch in Bezug auf das junge Alter ihrer Mitglieder – in Europa großen Zuwachs; von Spanien und Katalonien bis nach Griechenland, Slowenien oder Kroatien. Aber wird diese Linke auch "grün" sein, und wird sie ein alternatives, kooperatives Wirtschaftsmodell vorschlagen, inspiriert von den Degrowth-Ideen? Oder wird diese neue Linke wie diejenige Lateinamerikas, angetrieben von den Forderungen des globalen Kapitalismus, dieselbe expansive Logik weiterführen, einfach multinationale Unternehmen durch staatliche ersetzen, und die "Brotkrumen" ein wenig besser an die breite Masse verteilen?

Im Folgenden präsentieren wir zehn Vorschläge, die wir im Kontext von Spanien erarbeitet haben. Obwohl dieser Kontext spezifisch ist, können diese Vorschläge jedoch mit gewissen Anpassungen auch andernorts angewendet werden und für linke und grüne politische Parteien in ganz Europa relevant sein.

1. Schuldenschnitt für Staatsbürger_innen. Eine Wirtschaft kann nicht gezwungen werden zu wachsen, nur um Schulden abzutragen, die zu einem bloßen Scheinwachstum in der Vergangenheit beigetragen haben. Deshalb ist es wichtig, die Schulden nicht nur neu zu strukturieren, sondern im Rahmen einer neuen, wirklich demokratischen Kultur, einen Teil davon durch einen Schuldenschnitt aufzuheben. Solch ein Schuldenerlass sollte allerdings weder in Spanien, noch anderswo auf Kosten von Sparer_innen und Bezieher_innen bescheidener Renten gehen. Die Schulden der höchsten Einkommen- und Vermögensschicht wie auch die der Kreditgeber_innen für geplatzte Spekulationsgeschäfte sollten deshalb nicht erlassen werden.


2. Arbeitsplatzteilung (Work sharing). Reduzierung der Arbeitswoche auf mindestens 32 Stunden, sodass der durch weniger Arbeit entstehende Einkommensverlust nur die oberen 10% der Einkommenspyramide betrifft.

3. Grund- und Maximaleinkommen. Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zwischen 400 und 600 Euro pro Monat für alle Einwohner. Finanzierung dieser Maßnahme, in Verbindung mit weiteren Steuer- und Arbeitsmarktreformen, durch Einkommenserhöhung für die ärmeren 50% der Bevölkerung und Verringerung bei den oberen 10%. Beschränkung des maximalen Einkommens – sowohl durch Arbeit als auch durch Kapital – auf das 30-fache des Grundeinkommens (12.000 – 18.000 Euro im Monat).

4. Grüne Steuerreform. Einführung eines Haushaltssystems, welches das derzeit hauptsächlich auf Arbeit angewiesene Steuersystem langfristig in ein auf Energie- und Ressourcenverbrauch basierendes System umwandelt. Reduktion der Besteuerung der unteren Einkommensgruppen und Ausgleich durch eine CO2-Steuer. Ein Steuersatz von 90% für Höchsteinkommen, wie etwa in den 1950er Jahren in den USA üblich.

5. Beendigung von stark umweltschädlichen Subventionen und Investitionen. Umschichtung der befreiten öffentlichen Mittel hin zu sauberen Produktionsweisen. Einstellung aller öffentlichen Investitionen in und Subventionen für motorisierten Individualverkehr, militärische Technologie, fossile Brennstoffe oder Bergbau. Nutzung der so eingesparten Gelder für die Verbesserung, des ländlichen und städtischen öffentlichen Raums, den Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs und den Aufbau kleiner, dezentralisierte erneuerbarer Energien unter lokaler demokratischer Kontrolle.

6. Unterstützung einer alternativen, solidarischen Gesellschaft. Unterstützung des nicht-gewinnorientierten kooperativen Wirtschaftssektors durch Subventionen, Steuerbefreiungen und Gesetzgebung. Zu diesem allerorts immer wichtiger werdenden Sektor gehören unter anderem alternative Konsum- und Produktionsgenossenschaften und Netzwerke für eine grundlegende Gesundheitsversorgung, gemeinschaftliches Wohnen, Kredite, Bildung oder künstlerische Tätigkeiten.

7. Optimierung von Gebäudenutzung. Baustopp für neue Häuser zugunsten der Sanierung  vorhandenen Wohnraums und der Förderung der Vollbesetzung von Häusern, z. B. durch sehr hohe Steuern auf leer stehende oder Zweithäuser. Gegebenenfalls die Ausweitung der Maßnahmen bis hin zu einer sozialen Enteignung leer stehender Gebäude privater Investoren.

8. Reduktion von Werbung. Etablierung von Einschränkungskriterien für Werbung im öffentlichen Raum, angelehnt an das Beispiel der Stadt Grenoble. Die Einrichtung von Komitees zur Qualitäts- und Quantitätskontrolle von Werbung in den Massenmedien.

9. Einrichtung von ökologischen Obergrenzen. Einführung absoluter und abnehmender Obergrenzen für den Gesamtausstoß an CO2 und die Gesamtmenge an verbrauchten natürlichen Ressourcen. Diese gelten auch für die bei der Herstellung importierter Produkte entstandenen Emissionen und verbrauchten Rohstoffe.

10. Abschaffung des Bruttoinlandprodukts als Indikator für wirtschaftlichen Fortschritt. Da es sich bei dem Bruttoinlandsprodukt um einen irreführenden Indikator handelt, sollen andere Maße für Wohlstand und Lebensqualität verwendet werden. Statistiken über Geld- und Steueraufkommen können gesammelt und genutzt werden, wobei Wirtschaftspolitik nicht nach BIP-Richtwerten formuliert werden soll. Eine Debatte über die Form von Wohlstand und Lebensqualität muss angestoßen werden, wobei im Mittelpunkt stehen sollte, was gemessen werden sollte, und nicht wie.

Diese Vorschläge ergänzen einander und müssen in ihrer Gesamtheit umgesetzt werden. So könnten beispielsweise ökologische Höchstgrenzen das Wachstum reduzieren, aber auch Arbeitslosigkeit erzeugen. Eine Arbeitsplatzteilung zusammen mit einem Grundeinkommen würde hingegen die Schaffung von Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit vom Wirtschaftswachstum entkoppeln.

Die Umverteilung von Investitionen von "schmutzigen" zu "sauberen" Aktivitäten und die Reform des Steuersystems würden für die Entwicklung einer grüneren Wirtschaft sorgen, während die Abkehr vom BIP als Wohlstandsindikator und die Anwendung von anderen Messinstrumenten sicherstellen könnte, dass dieser Übergang ein Erfolg wird.

Schließlich wird die veränderte Besteuerung und Kontrolle von Werbung, den positionellem Wettbewerb in der Bevölkerung entspannen und die Frustration reduzieren, die mit einem Ausbleiben von Wachstum einhergeht. Investitionen in Gemeingüter (Commons) und geteilte Infrastrukturen würden ohne Wachstum den Wohlstand steigern.

Wir erwarten nicht, dass linke Parteien sich "Degrowth" auf die Fahnen schreiben. Wir verstehen die Schwierigkeiten, die es bringt, wenn plötzlich eine allgemeingültige Denkweise in Frage gestellt wird. Was wir jedoch von den neuen Linken erwarten, sind Schritte in die richtige Richtung und politische Maßnahmen im Sinne der oben aufgeführten, unabhängig von ihren Auswirkungen auf das Wachstum. Ebenso erwarten wir von den neuen Linken, sich vom Wirtschaftswachstum als Zielsetzung langsam aber sicher zu lösen. Und wir erwarten von ihnen, bereit zu sein, und Ideen und Vorschläge parat zu haben, falls die Wirtschaft sich weigert zu wachsen. Das ist keine einfache Leistung, aber die Linke war noch nie dazu bestimmt, den einfachen Weg zu gehen.
Giorgos Kallis ist Mitglied der akademischen Vereinigung "Research & Degrowth". Er ist ein Umweltwissenschaftle, der zu ökologischer Ökonomie, politischer Ökologie und Wasserpolitik arbeitet.

(Aus dem Englischen übersetzt von Svenja Häger, Eleonora Brose und Christian Kerschner)