Vor 130 Jahren wütete ein monströser, bis heute nicht identifizierter Frauenmörder im Londoner Eastend.
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Wer nach Einbruch der Dunkelheit durch das Londoner Eastend schlendert, wird Zeuge eines seltsamen Schauspiels. Durch die engen Gassen zwischen den Docks, dem London Tower und der Bishopgate Street ziehen vereinzelt stille Gruppen von ehrfürchtigen Touristen, ihrem Gruppenleiter folgend, der sie in regelmäßigem Abstand vor einer mit Graffiti dekorierten Tür stoppen lässt und in leisem Ton zu ihnen spricht. Hier, so kann man vielleicht hören, habe sich einst einer der schrecklichen Morde ereignet, da wohnte vielleicht eines der Opfer, dort wurden möglicherweise Indizien gefunden.
Wenige Meter weiter, vor einer ähnlichen Tür, sieht man eine weitere Gruppe, der dieselben Schauergeschichten erzählt werden. Was ihnen dabei in geisterhaftem Ton angepriesen wird, sind die Spuren des Frauenmörders Jack the Ripper. Heute, 130 Jahre nach den Bluttaten, die sich zwischen dem 31. August und dem 9. November 1888 ereigneten, ist der Mörder noch immer ein Touristenmagnet. Denn wenn auch seine Identität bis heute de facto unbekannt blieb, kennt doch jeder den Namen Jack the Ripper.
Neben ihren Gräueltaten wird die Berühmtheit dieser Figur davon gespeist, dass sie nie gefasst wurde und man bis heute nicht weiß, wer sie war. So ist sie - und wird es wohl auch bleiben - Projektionsfläche für alle Arten von Phantasmen, Einbildungen, Ängsten und Hass.
Brutalität mit Methode
Im Herbst 1888 berichten alle Zeitungen über eine Reihe von grauenhaften Morden, die die öffentliche Meinung in Aufruhr, Angst und Schrecken versetzt. Am 1. Oktober schreibt die "Times":
"Zwei weitere Morde müssen jetzt zur schwarzen Liste ähnlich gearteter Verbrechen, von denen das Londoner Eastend in letzter Zeit Schauplatz war, hinzugefügt werden. Bei beiden handelt es sich zweifellos um Morde, die absichtlich geplant und von jemandem ausgeführt wurden, der kein Novize in dieser Arbeit war. (. . .) Die Wiederholung dieser Morde in kurzen Zeitabständen und mit mehr oder weniger Ähnlichkeiten macht es mehr als wahrscheinlich, dass die beiden Morde nicht die letzten ihrer Art sein werden. Es gibt zu viel System und Methode und zu viel offensichtlichen brutalen Wagemut, sodass die Chance einer Aufklärung sehr unwahrscheinlich erscheint."
Der Mörder bekommt rasch einen Spitznamen, den er sich (angeblich) selbst verpasst. In den Briefen an die Presse, in denen er seine Intentionen mitteilt ("Ich bin hinter Huren her und ich werde nicht aufhören, sie aufzuschlitzen, bis ich geschnappt werde"), unterschreibt er mit "Jack the Ripper" (von "to rip", aufschlitzen).
Der Fall wird zu einer Story, die mystische Züge annimmt. Die Morde, nicht die ersten und nicht die letzten im damaligen London, werden also zu einer Serie gereiht. Aus den unzähligen Briefen des vermeintlichen Verbrechers, die die Polizei bekommt, werden einige ausgesucht, die man als "kanonische" bezeichnet, obwohl sie sehr wahrscheinlich von einem Journalisten verfasst wurden, der sich damit eine Stilübung erlaubt hat. Alle anderen werden von nun an als "Apokryphen" verworfen.
Die Persönlichkeit des Täters wird konstruiert, es wird ein Profil erstellt. In dem Zusammenhang erscheint erstmals eine neue Figur der polizeilichen Untersuchung: die des Profilers. Dieser versucht anhand von Indizien das Psychogramm des Verbrechers zu zeichnen, auf dass man ihn aufspüren und fassen möge.
Jahre später wird der Schriftsteller Conan Doyle diese Fähigkeiten in perfektionierter Form seinem Detektivhelden Sherlock Holmes verleihen, der anhand eines Zigarrenstummels die ganze Biografie eines Individuums zu rekonstruieren vermag, inklusive Kinderkrankheiten, Haarfarbe und Schuhgröße.
Da der Mörder trotz Profiler nicht gefasst wird, bleibt man bei Verdächtigen hängen. Die als mutmaßlicher Täter Präsentierten erscheinen als Personifizierung einer bestimmten Kategorie, die aus diversen Gründen jeweils gut ins Bild passen. So gibt es den jüdischen Metzger, den Ausländer, den sadistischen Arzt, den pervertierten Künstler oder den geisteskranken Aristokraten, vielleicht sogar aus der königlichen Familie, und nicht zuletzt auch noch die Möglichkeit, dass es sich beim Täter eigentlich um eine Täterin handelt. Da das monströse Bild einer derart gewalttätigen Frau offenbar nicht in die Vorstellungswelt der viktorianischen Zeit passt, wurde es eher am Rande behandelt, obwohl die spärlichen Indizien diese Theorie ebenso wenig ausschließen würden.
Die Opfer sind allesamt Prostituierte der ärmsten Gesellschaftsschicht, die in größtem Elend und Alkoholismus lebt. Figuren, die wohl symbolhaft stehen für die letzte Stufe menschlichen Niedergangs, wie sie auch Émile Zola in seinem Roman "Nana" beschreibt, der acht Jahre zuvor erschienen war. Nana ist die verweste Venus, die das Volk mit Syphilis vergiftet und davon Spuren im Gesicht trägt.
Alle Opfer wurden auf dieselbe Art ermordet: Ihnen wurde die Kehle von hinten durchgeschnitten, vermutlich von einem Linkshänder, und sie wurden, bis auf einen Fall, aufs Grausamste entstellt. Da ist etwa Catherine Eddows, der man den Bauch aufgeschlitzt und die Gedärme um die Schultern gewickelt hatte, auch ein Teil der Leber war aufgeschnitten. Ihre Augenlider sowie ein Ohr wurden abgetrennt. Es gibt von diesem Opfer Fotografien - damals eine Neuheit der polizeilichen Untersuchungen -, die auch für die Nachwelt von dem Gräuel zeugen.
Medialer Rummel
Besonders schwer erträglich sind die Bilder des letzten Opfers, Mary Jane Kelly, die in ihrem Bett aufgefunden wurde. Ihr wurden Nieren und Busen abgeschnitten und neben ihr angeordnet. Der Polizeimediziner hält in seinem Bericht fest: "Das Gesicht wurde in allen Richtungen eingeschnitten, Nase, Wangen, Augenbrauen und Ohren wurden teilweise entfernt. (. . .) Beide Brüste wurden durch mehr oder weniger kreisförmige Schnitte entfernt. (. . .) Der untere Teil der Lunge war zerstört und herausgerissen."
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Diese Morde geschahen nachts, zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh, angeblich bei Vollmond. Nächte, die den Schutz des Nebels und Smogs boten. Eine gewisse Kühnheit muss man Jack the Ripper lassen: Zu diesen Stunden war das Viertel menschenleer, jedes Geräusch in den engen Gassen also leicht hörbar - und die nächste Wache nie weit entfernt.
Der mediale Rummel ist in ganz Europa enorm. Auch die "Wiener Zeitung" oder das "Berliner Tageblatt" berichten von Anfang an und halten ihr Publikum mit den perfekten Ingredienzen in Atem. Es ist daher wohl kein Zufall, dass zwei Jahre später die Weltöffentlichkeit die Kreation des schon erwähnten Sir Arthur Conan Doyle präsentiert bekommt: "The Sign of the Four", das im Jahr 1888 spielt. Da der Erfolg der zunächst nur in Magazinform erschienenen Geschichte so groß ist, folgt noch im selben Jahr die Buchausgabe.
Der Schock über die Grausamkeit der Morde und die fieberhafte Suche nach dem unfassbaren Monster machen nach und nach dem Entdecken der Lebensverhältnisse der Ärmsten Platz, die im Londoner Eastend ihr Dasein fristen. Diese sozialen Verhältnisse sind die Kehrseite der auf ihrem Höhepunkt befindlichen viktorianischen Zeit: Gerade eben, 1887, wurde das Jubilee, die Apotheose der Königin Viktoria gefeiert, die sich seit einem Jahrzehnt auch als Kaiserin Indiens betitelte.
Seit 15 Jahren kennt das britische Imperium eine nie enden wollende wirtschaftliche Krise, die die Landbevölkerung in die Städte treibt. Während der Kapitalismus Blüten treibt, sind die Existenzverhältnisse der Fabriksarbeiter und Armen miserabel. Eine immer größer werdende Bevölkerungsschicht lebt in unbeschreiblichem Elend.
1903 tritt der amerikanische Schriftsteller Jack London mit seinem berühmten Bericht "People of the Abyss" ("Bewohner des Abgrunds") in der New Yorker Zeitung "Independent" an die Öffentlichkeit. Von seinem Besuch des Londoner Eastend, vor dem man ihn noch gewarnt hatte - "Vergessen Sie nicht, dass es dort Viertel gibt, wo ein Menschenleben nicht einmal zwei Schilling wert ist" -, zeichnet er ein tristes Bild:
"Die Arbeitshäuser können nicht mehr von den notleidenden Scharen aufnehmen, die sich Tag und Nacht vor den Toren ansammeln und Brot und Obdach fordern. Alle wohltätigen Einrichtungen haben bei dem Versuch, die notleidenden Bewohner von Dachkammern und Kellerräumen in den Gassen und Winkeln Londons am Leben zu erhalten, ihre Mittel aufgebraucht. Die Quartiere der Heilsarmee in den verschiedenen Distrikten Londons werden allnächtlich von Heerscharen Arbeitsloser und Hungernder belagert, denen man weder Nahrung noch Unterkunft verschaffen kann."
Soziale Unruhen
Der Glanz dieser viktorianischen Zeit trügt also, und trotz eines ständig erweiterten Polizeiapparats brodelt der Kochtopf der sozialen Unruhen. Zwar herrscht eine strenge Moralauffassung, welche sexuelle Repression und die Gleichsetzung von wirtschaftlichem wie sozialem Elend mit dem Laster etabliert, die aber in einen so grotesken wie unmenschlichen Puritanismus ausartet und Leute wie Oscar Wilde wegen Homosexualität für Jahre in den Kerker verbannt. Die Scheinmoral und der Druck der Armut lassen die Prostitution im London jener Zeit in unglaublichem Ausmaß anwachsen. In diesem Kontext erscheint die Geschichte von Jack the Ripper, der Prostituierte ermordet, die die feinen Herren der guten Gesellschaft zwar besuchen, sie aber dennoch als Abschaum der Menschheit bezeichnen, als Sinnbild für die Widersprüchlichkeit dieser Zeit.
Die erdachten Profile von Jack the Ripper sind allesamt Symptome der Ängste oder Krisen, die diese Gesellschaft durchlebt. Sei es die These vom verrückten Täter, die den Fall als psychiatrischen einordnet, oder die These vom ausländischen Mörder im Kontext einer wachsenden wirtschaftlichen Migration, aus dem In- oder Ausland, Russen oder Polen. Der Antisemitismus findet in der Figur eines jüdischen Metzgers seinen Ausdruck. Wobei andererseits der Hurenmörder auch zum Rächer der Moral hochstilisiert wird. Der wachsende Zweifel gegenüber der Führungsschicht kommt wiederum in den Mutmaßungen zum Ausdruck, es könnte sich bei dem Mörder um ein geisteskrankes Mitglied der königlichen Familie handeln, das man, um dem Skandal vorzubeugen, beseitigt hätte. Daher das abrupte Aufhören der Mordserie.
Die Figur des vielleicht auch nur konstruierten Jack the Ripper erhält einen Teil ihrer Brisanz eben dadurch, dass der Fall unaufgeklärt bleiben wird - und dies auch sollte, damit er seine wesentliche Funktion als multiple Projektionsfläche beibehält.
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Manuel Chemineau, geboren in Paris, Kulturhistoriker, Literaturwissenschafter und Übersetzer, unterrichtet an der Universität Wien.