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Paris - Premierminister Jean-Pierre Raffarin reichte gestern sein Rücktrittsgesuch ein - so will es die Tradition in Frankreich im Anschluss an eine Parlamentswahl. Doch nach dem triumphalen Erfolg des bürgerlich-konservativen Lagers hat Präsident Jacques Chirac den Wahlsieger umgehend im Amt bestätigt. Der Rechtsliberale, bis vor kurzem ein unbekannter Provinzpolitiker, dürfte auf Jahre hinaus die Regierungsgeschäfte der "Grande Nation" führen.
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Mit Raffarin zog Chirac nach seinem Sieg über Jean-Marie Le Pen Anfang Mai einen Joker, der sofort stach. Der unverbraucht wirkende 53-Jährige ist das lebende Kontrastprogramm zu seinem Mentor. Der bedächtige Raffarin wirkt glaubwürdig und bescheiden, kann gut zuhören, kultiviert seine Distanz zur als arrogant verschrieenen Pariser Polit-Elite und gibt sich volksnah, ohne kumpelhaft zu wirken. Der Nachfolger des Sozialisten Lionel Jospin kommt an. Raffarin erfreut sich traumhafter Popularitätswerte und kann sich den Wahlsieg vom Sonntag zu einem Gutteil auf seine Fahnen schreiben. "Frankreich ist raffariniert", titelte das Nachrichtenmagazin "L'Express". Dabei hat er eigentlich mangels Parlamentsmehrheit noch keine Politik gemacht, sondern es bei Ankündigungen belassen müssen. Nach dem Wahlsieg wollen Präsident und Premier aufs Tempo drücken.
Schon für Anfang Juli wird die neue Nationalversammlung zu einer Sondersitzung zusammengerufen. Das Parlament soll sechs Milliarden Euro für eine bessere Ausstattung von Polizei und Justiz genehmigen und die Einkommenssteuer noch für dieses Jahr um fünf Prozent senken. Alle Wahlversprechen von Präsident Chirac würden erfüllt, hat der Regierungschef von Chiracs Gnaden versprochen. Doch genau das dürfte ihm noch einiges Kopfzerbrechen bereiten.
Steuer- und Abgabensenkungen von 30 Milliarden Euro bis 2007 hat Chirac im Wahlkampf zugesagt und sich auf dem EU-Gipfel von Barcelona noch einmal auf den Abbau des Staatsdefizits bis 2004 festgelegt. Wie Raffarin beides unter einen Hut bringen will, ist bisher völlig unklar. Auch muss die neue Regierung die überfällige Rentenreform anpacken. Der soziale und politische Zündstoff dieser Frage wurde bereits 1995 mit den landesweiten Streiks gegen die Pläne des damaligen Regierungschefs Alain Juppe deutlich.
Raffarin predigt den sozialen Dialog und behutsame Reformen. Seine Stärke könnte es sein, dass er nicht an seinem Amt hängt. "Ich bin ein freier Mann", versichert er glaubwürdig. Es sei nie sein Ziel gewesen, ins Hotel Matignon, dem Sitz des Premierministers, einzuziehen. "Also habe ich auch keine Angst davor, wenn ich dieses Haus eines Tages wieder verlassen muss."