Vranitzky: Politik führt dazu, dass sich auch Nicht-Arme benachteiligt fühlen. | "Ständige Steuer-Ideen der Koalition schaffen kein Vertrauen." | "Wiener Zeitung": Ist Österreich ein Land, in dem soziale Gerechtigkeit herrscht? Immerhin wirbt SPÖ-Vorsitzender Bundeskanzler Werner Faymann seit Wochen mit dem Slogan "Zeit für Gerechtigkeit". | Franz Vranitzky: Na ja, die Anforderung nach Gerechtigkeit ist in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit gegeben. Und wenn man glaubt, man hat es endlich geschafft, Gerechtigkeit herzustellen, dann muss man bereits am nächsten Tag schauen, wo sich diese Frage schon wieder neu stellt. | SPÖ-Parteitag richtet Fokus auf Verteilungsgerechtigkeit
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wo besteht denn in Österreich der konkrete Bedarf nach mehr Gerechtigkeit?
In der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise haben viele Menschen den Eindruck, dass die großen Kapitalvermögen von der Politik in Schutz genommen werden, die sogenannten kleinen Leute aber allein gelassen werden.
Ist dieser Eindruck aus Ihrer Sicht korrekt?
Meiner Meinung nach eigentlich nicht, der Staat hat auch sehr viel getan, die Kleinen zu schützen: Durch ein dichtes sozialpolitisches Netzwerk, das hoffentlich bald von der Mindestsicherung noch weiter verbessert wird.
Warum aber dann diese Hochkonjunktur einer "Politik der Gefühle" statt sachlicher Analyse?
Wir erleben derzeit tatsächlich eine Politik der Gefühle: Es gibt eine gefühlte ungerechte Verteilung genauso wie eine gefühlte Inflation. Wir erleben das seit vielen Jahren, was Ihnen auch sämtliche Meinungsforscher bestätigen werden. Es ist offensichtlich das tägliche Brot der Politik, mit dieser gefühlten Wirklichkeit zurande zu kommen.
Die wird zweifellos vom medialen Boulevard heftig befeuert, aber dennoch überrascht die mangelnde Bereitschaft der Politik, dagegen anzukämpfen.
Was die immer angeführte soziale Ungerechtigkeit angeht, so haben wir in Österreich rund 500.000 Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, 570.000 sind armutsgefährdet. Die Politik der Gefühle führt aber nun dazu, dass sich plötzlich auch solche, die eigentlich gar nicht arm sind, benachteiligt fühlen. Natürlich ist es die Aufgabe der Politik, sich um die armen und armutsgefährdeten Menschen zu kümmern. Sie muss aber auch allen anderen vermitteln, dass diese in ihrem Leben viel erreicht und eigentlich allen Grund haben, auf das Erreichte stolz zu sein. Man muss sich dazu doch nur die Entwicklung einst armer ländlicher Regionen in Österreich in den letzten Jahrzehnten ansehen. Hier wurde enormer Wohlstand geschaffen - und diesen Wohlstand gilt es in Zeiten der Krise abzusichern.
Und geschieht es, dass die Politik den Menschen diesen Stolz vermittelt?
Sie sollte sich auf jeden Fall bemühen, dies noch mehr zu tun. Politik muss den Bürgern mehr Selbstbewusstsein und Stolz auf das Erreichte vermitteln.
Allerdings gibt es diesen Stolz auf eigene Erfolge nicht einmal bei der Politik selbst. Lieber macht diese ihre eigenen Leistungen schlecht.
Warum das so ist, kann ich nicht sagen, aber ich teile diese Einschätzung. Politik neigt mehr zum Beklagen als zu einer nüchtern-positiven Beurteilung, die der Situation eher angemessen wäre. Nur vergisst sie dabei darauf, ihre eigenen unbestrittenen Erfolge den Menschen zu verkaufen.
Werner Faymann stellt sich nach seiner Kür 2008 an diesem Samstag der Wiederwahl zum SPÖ-Vorsitzenden. Wie beurteilen Sie seine Bilanz in den vergangenen zwei Jahren?
Wir erleben derzeit eine Weltwirtschaftskrise und die Regierung Faymann hat alles gut und richtig gemacht, die Folgen dieser Krise für Österreich so weit wie möglich abzufedern. Für dieses Jahr hat sich die Regierung dazu entschlossen, die staatstragenden Sanierungsmaßnahmen erst im Oktober und November zu beschließen. Ich halte das eigentlich für gar nicht so schlecht - nicht, weil dann die Landtagswahlen in der Steiermark und in Wien vorbei sind, sondern weil es jetzt darum geht, dass sich die Konjunktur möglichst ungestört entwickeln kann.
Weniger positiv ist, dass sich jetzt die Regierung nicht an ihren eigenen Vorsatz des ruhigen Abwartens hält. Praktisch jede Woche werden derzeit von einer der beiden Regierungsparteien irgendwelche neuen Reform- und Steuerideen ventiliert, die von der anderen abgelehnt werden. Mit solchen Versuchsballonen schafft man aber kein Vertrauen bei den Menschen. Wenn ich als alter Mann der Bundesregierung einen Rat geben darf, dann diesen: "Schafft lieber Vertrauen als Luftballons!"
----------------
+++ Zur Person
"Franz Vranitzky, Foto Newald";floatimage=left Franz Vranitzky wurde 1937 in Wien geboren. Der Finanzfachmann und Sohn eines Eisengießers war von 1986 bis 1997 Bundeskanzler der Republik Österreich und von 1988 bis 1997 Bundesvorsitzender der SPÖ.