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Heute vor genau 63 Jahren, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, fand im nationalsozialistischen Deutschen Reich und der bereits angeschlossenen Ostmark Pogrome gegen Juden statt, die immer noch unter dem von den Nazis geprägten Terminus "Reichskristallnacht" bekannt sind. Auslöser für die Gewaltakte gegen jüdische Geschäfte und Synagogen war der Mord des 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan am Legationssekretär Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris.
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Die genaue Herkunft der Bezeichnung "Reichskristallnacht" ist bis heute nicht definitiv geklärt. Er dürfte erst in der Zeit nach den Ereignissen vom 9./10. November aufgekommen sein und sich auf das zersplitternde Glas der Fensterscheiben jüdischer Geschäfte beziehen. In der gleichgeschalteten deutschen Presse war jedenfalls zu lesen: "Des Volkes Zorn nahm Vergeltung an den jüdischen Ladengeschäften, denen größtenteils sämtliche Fenster eingeschlagen wurden". Die Nationalsozialisten nahmen eine Verzweiflungstat des 17-jährigen Grynszpan zum willkommenen Anlass, den schon lange vorbereiteten "vernichtenden Schlag" gegen das verhasste Judentum in die Wege zu leiten. Sofort nach der Tat wurde die gleichgeschaltete deutsche Presse bis ins Detail angewiesen, wie sie das Attentat als "Anschlag des Weltjudentums" groß herausstellen sollte.
Als Ernst vom Rath am 9. November seinen Verletzungen erlag, feierten die "Alten Kämpfer" rund um Adolf Hitler gerade in München die Erinnerung an den Münchner Putsch von 1923. Nachdem Hitler vom Tod des Pariser Botschaftsmitgliedes erfuhr, sprach er längere Zeit mit seinem Propagandaminister Josef Goebbels und verließ dann die Versammlung. Goebbels forderte in einer antisemitischen Hasstirade Vergeltung und Rache. Die Rede wurde, wie beabsichtigt, als indirekte Aufforderung zum Handeln verstanden, die Partei- und SA-Funktionäre wiesen ihre Gefolgsleute an, den Pogrom in die Wege zu leiten - der bereits seit langem geplant war, denn es existierten bereits genaue Aufstellungen über zu zerstörende jüdischen Einrichtungen und Geschäften. Angeheizt durch eine beispiellose Pressekampagne brachen in der Nacht zum 10. November randalierende Nazis über die jüdischen Kultuseinrichtungen und Geschäfte herein, Juden wurden misshandelt, ermordet und zu Tausenden in Konzentrationslager eingeliefert. Synagogen wurden in Brand gesteckt, Versuche, die Brände zu löschen, von den Brandstiftern verhindert.
Goebbels-Propaganda
Die offizielle Propaganda versuchte die antisemitischen Ausschreitungen als spontane Antwort der Bevölkerung auf den Mord an dem deutschen Diplomaten auszugeben. Grynszpan selbst wollte, wie er bei den Verhören den französischen Behörden gegenüber immer wieder betonte, lediglich die Deportation seiner Familie aus Deutschland zurück nach Polen rächen, von der er kurz vor der Tat durch einen Brief erfahren hatte. Er hatte zu diesem Zweck einen Revolver erworben und nicht etwa - was ja ein viel größeres Aufsehen erregt hätte - den deutschen Botschafter in Paris erschossen, sondern einen unbedeutenden Legationssekretär, zu dem er bei seiner Vorsprache in der Botschaft zufällig geführt worden war.
Gleich nach dem Attentat tauchte bei Gegnern der Nationalsozialisten die Vermutung auf, Grynszpan sei von den Nazis zu dem Mordanschlag gezwungen worden, um so einen Vorwand für die vorbereiteten Pogromaktionen zu haben. Gründliche Ermittlungen der französischen Polizei ergaben aber keinerlei Hinweis darauf, dass Grynszpan ein Werkzeug der Nazis hätte gewesen sein können.
Die Nationalsozialisten planten ursprünglich, in einem Schauprozess der Weltöffentlichkeit beweisen, dass Grynszpan als "Werkzeug des Weltjudentums" gehandelt habe. Aus dem Prozess wurde allerdings nichts, da zu offensichtlich auf der Hand lag, dass Grynszpan aus rein persönlichen Motiven gehandelt hatte. Grynszpan wurde später vom besiegten Frankreich an Deutschland ausgeliefert und soll als "Sondergefangener" den Krieg im Konzentrationslager Sachsenhausen überlebt haben. Seine Spur verliert sich allerdings in den Wirren der letzten Kriegsmonate.