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"Jahrzehntelange, zynische Lügen"

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Trauer um über 20.000 von Stalin hingerichtete polnische Offiziere. | Putin will bessere Beziehungen mit Ex-Erzfeind. | Moskau/Wien. Russlands Premier Wladimir Putin kniet gemeinsam mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk im Wald von Katyn, um der polnischen Opfer der Stalin’schen Säuberungspolitik zu gedenken: Wer dieses Szenario noch im Herbst vergangenen Jahres für möglich gehalten hätte, hätte wohl als Phantast gegolten.


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Damals waren, im Zuge des Gedenkens an den Beginn des Zweiten Weltkrieges, zwischen den Erbfeinden die Emotionen hochgekocht: In einer per Akklamation verabschiedeten Erklärung des polnischen Parlaments wurde der sowjetische Überfall auf Polen scharf verurteilt und dabei auf die Massaker des Sowjet-Geheimdiensts NKWD Bezug genommen: Die Erschießung von mehr als 20.000 polnischen Offizieren in Katyn und an anderen Orten in Russland, Weißrussland und der Ukraine sei ein "Kriegsverbrechen mit Merkmalen eines Völkermords" gewesen, so die polnischen Parlamentarier. Die Note wurde daraufhin von Kreml-nahen Politologen als "antirussisch" gewertet - aber auch russische Menschenrechtler wie der Leiter der Organisation "Memorial", Oleg Orlow, stießen sich an der Völkermord-Vokabel: Stalins Politik sei nicht mit dem Willen des russischen Volkes gleichzusetzen.

Überraschender Schritt

Noch im Jänner war man im Kreml verstimmt über die polnische Haltung und verzichtete auf einen Besuch von Präsident Dmitri Medwedew bei den Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Die sich schon seit Jahren hinziehenden Dispute um die Bewertung der Vergangenheit ließen auch für die Erinnerungsfeiern an Katyn ähnliches befürchten. Als "überraschend" wertete daher der polnische Historiker Wojciech Roszkowski die Einladung Putins an Tusk, der Gedenkfeier in Katyn, rund 20 Kilometer westlich von Smolensk, beizuwohnen. Es handle sich um die "zweitwichtigste Geste" Russlands nach der Übergabe der Katyn-Archivdokumente durch den ehemaligen Präsidenten Boris Jelzin.

Überraschend war für viele wohl auch, dass es ausgerechnet der als Hardliner verschrieene Putin war, der die Einladung aussprach und nun auch am Mittwoch gemeinsam mit Tusk einen Kranz niederlegte: Immerhin stand Putin mit dem russischen Geheimdienst FSB einst einer Organisation vor, die im Gründer des Sowjet-Geheimdiensts "Tscheka", Felix Dserschinski, ihren Ahnherren begreift. Und die Morde von Katyn wurden von den "Tschekisten" des NKWD aufgrund eines im Frühling 1940 von Sowjet-Diktator Josef Stalin unterzeichneten Befehls begangen. Unter den Opfern waren seit 1939 internierte polnische Intellektuelle, Polizisten, Reservisten und Offiziere. Sie wurden zwischen 3. April und 19. Mai 1940 vom NKWD mit Kopfschüssen hingerichtet. Moskau machte für das Massaker das deutsche NS-Regime verantwortlich. Erst 1990 gestand Michail Gorbatschow namens der Sowjetunion die Schuld an den Hinrichtungen ein.

Nunmehr reichten sich Putin und Tusk über den Gräbern von damals die Hand. Dass dabei auch der russischen Opfer Stalins gedacht wurde, macht die historische Versöhnungsgeste für Putin sicher leichter: "Unser Volk, das die Schrecken des Bürgerkrieges, die gewaltsame Kollektivierung und die Massenrepressalien der 1930er Jahre erlebt hat, versteht besser als jemand, was Katyn, Mednoje und Pjatichatka (Die Orte der Massaker, Anm.) für jede polnische Familie bedeuten", sagte der russische Premier. Jahrzehntelang habe man versucht, die Erschießungen von Katyn "mit zynischen Lügen zu verschleiern". Doch wäre es auch eine Lüge, dem russischen Volk die Schuld zu geben, betonte Putin: "Eine Geschichte, die von Wut und Hass geschrieben wird, ist ebenso falsch wie eine lackierte und retuschierte Geschichte". Russen und Polen sollten - wie schwer es auch sein möge - aufeinander zugehen.

Erfolg noch ungewiss

Beobachter vermuten auch politische Gründe hinter dem Schritt Putins zur Vergangenheitsbewältigung: Die ambivalente russische Geschichtsinterpretation, die in Stalin gleichzeitig einen Massenmörder und Modernisierer des Landes sieht, dem der Sieg über Hitler-Deutschland wesentlich mitzuverdanken wäre, stand in den vergangenen Jahren allzu oft guten Beziehungen mit den Staaten im Wege, die unter der Stalin’schen Politik besonders gelitten hatten.

Ob Putin mit seiner Initiative Erfolg beschieden sein wird, ist noch offen: Einerseits möchte Polen Zugang zu den russischen Katyn-Dokumenten, und Russland hält die Archive bisher unter Verschluss. Und andererseits regt sich in Russland noch Widerstand gegen die historische Einsicht: Die Kommunisten fordern eine neue Untersuchung des Massenmordes, der in Zusammenhang "mit dem Tod von 60.000 russischen Kriegsgefangenen in polnischen Gefängnissen nach Polens Angriff auf den sowjetischen Staat 1920" gesehen werden müsse.