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Veränderte Zeiten brauchen politische Fantasie.
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Das Scheitern der deutschen Koalitionsverhandlungen ist ein Jammer. Weit über die Tagesaktualität hinaus. Nicht weil die Jamaika-Koalition zwischen CDU, CSU, Grünen und Liberalen die Wunschkoalition von irgendjemandem gewesen wäre. Es findet sich wohl keiner, der Sympathien für alle vier Parteien gleichzeitig hat. Aber eben darum ist es eine vergebene Chance. Jamaika hätte etwas sein können - wenn es denn gelungen wäre.
Einer fragmentierten Gesellschaft steht heute eine fragmentierte Politik gegenüber. Große Mehrheiten sind vorbei. Und "GroKos" haben überall abgewirtschaftet. Weil die Partner so verschieden oder weil sie so wenig verschieden, so ununterscheidbar sind? Nein, weil "GroKos" Abbilder der alten Lagergesellschaft sind. Weil sie der veränderten Gesellschaft nicht mehr adäquat sind.
In dieser Situation hätte das unmögliche, das exotische Jamaika-Bündnis ein großes Projekt sein können. Nicht in dem Sinne, dass sie gemeinsam ein großes Projekt entwickelt oder realisiert hätten. Es hätte wohl in allen Bereichen - von Europa bis zur Migrationsfrage - nur zum Minimalkonsens gereicht. Das hat viele Skeptiker auf den Plan gerufen, die davor warnten, die je eigene Position bis zur Unkenntlichkeit aufzuweichen. Ja, Jamaika wäre eine Koalition, wo jeder Partner sich maximal bewegen hätte müssen. Aber genau darin wäre auch eine große Chance gelegen.
Die Chance nicht mittels Programmatik, sondern mittels reiner Pragmatik eines Sich-Zusammen-Raufens ein großes politisches Projekt zu werden: das Projekt, die fragmentierte Politik, die auseinanderstrebende Gesellschaft zu verbinden. Gerade in Zeiten der rechtspopulistischen Herausforderung, die die Gesellschaft durch ein "verbindendes" Konzept von Nation spaltet - die Nation, die sie meinen, ist ja nur insofern "verbindend" als sie ausgrenzend ist. Gerade da wäre Jamaika ein wunderbares Gegenmodell gewesen: Kein Zusammenkommen unter einer Parole, kein Versammeln unter einer Fahne - aber die äußerst gegensätzlichen Strömungen der Gesellschaft hätten sich zu einem Kompromiss durchringen müssen.
Gerade der Streit der letzten Wochen hätte produktiv sein können. Das Aufeinanderprallen der Standpunkte ist kein Drama - es zeigt vielmehr deutlich, wo die Bruchlinien liegen. Wäre es zu einer Einigung gekommen, wäre das weder ein einfacher Konsens noch billige Harmonie gewesen. Jamaika wäre die - vergebene - Chance gewesen, durch die großen Widersprüche einer heutigen Gesellschaft hindurch zu einem gemeinsamen Nenner zu finden - einen Konsens für die ganze Gesellschaft. Das wäre ein Zukunftsmodell gewesen.
Wie wichtig dieses Zukunftsmodell gewesen wäre, zeigt der Blick auf die derzeitigen österreichischen Koalitionsverhandlungen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Statt Streit - Harmonie. Statt unterschiedlicher Standpunkte - große Einigkeit. Aber heraus kommt das Gegenteil von dem, was Jamaika hätte sein können: eine Koalition, die die gegenstrebigen Fügungen der Gesellschaft weiter spaltet denn je. Statt eines politischen Projekts aus dem Geist des Streits - eine Koalition der Gesellschaftsspalter aus dem Geist der (Verhandlungs-)Harmonie.