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Janukowitsch in der Sackgasse

Von Gerhard Lechner

Politik

EU verknüpft umstrittenen Prozess mit Assoziierungsabkommen für Kiew.


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Kiew. Anekdoten gehören zur ukrainischen Politik wie Salz in den Borschtsch. Ein Gerücht, das über Präsident Wiktor Janukowitsch im Umlauf ist, besagt: Der Staatschef ist ein Technikmuffel. Angeblich fängt der 61-Jährige mit Computern nicht viel an und nutzt das Internet nicht. Als Informationsquelle, so wird erzählt, blieben ihm da nur seine Einflüsterer: Oligarchen aus dem ostukrainischen Donbass. Sie sollen in Kiew politisch den Takt angeben.

Ob wahr oder nicht, das Gerücht illustriert jedenfalls ganz gut, dass sich kaum ein Beobachter erklären kann, wie sich Janukowitsch derart in eine Sackgasse manövrieren konnte. Der ukrainische Präsident hat es fertiggebracht, einerseits in den vergangenen Monaten einen Kurs Richtung EU zu steuern und Moskau mit seiner Forderung nach billigerem Gas zu verprellen, andererseits im selben Zeitraum der Ikone der Orangen Revolution von 2004, Ex-Premierministerin Julia Timoschenko, den Prozess zu machen. Die eher prowestliche Politikerin soll während ihrer Amtszeit Gasverträge mit Russland zum Nachteil der Ukraine geschlossen haben. Die Staatsanwaltschaft fordert sieben Jahre Haft. Am 11. Oktober, kommenden Dienstag, will Richter Rodion Kirejew in Kiew das Urteil verkünden.

Offenbar hatte Janukowitsch geglaubt, das Verfahren gegen die frühere Ministerpräsidentin, das nach selektiver Rechtssprechung und politischer Lenkung riecht, würde das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU nicht behindern. Ein Irrtum: Die geschickte Selbstdarstellerin Timoschenko nutzte den Prozess, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Politikerin mit dem Haarkranz ist ein Symbol: Während es das ebenso fragwürdige Verfahren gegen Timoschenkos Ex-Innenminister Juri Luzenko nicht auf die Titelseiten internationaler Medien schaffte, schlug die Nachricht, dass Timoschenko in U-Haft genommen wurde, im August wie eine Bombe ein. EU-Politiker verknüpften das Schicksal Timoschenkos mit dem Assoziierungsabkommen.

Spiel über die Bande

Mittlerweile ist die ukrainische Führung vollauf damit beschäftigt, aus der selbstgeschaffenen Sackgasse wieder herauszufinden. Eigentlich hätte das Urteil bereits Mitte September feststehen sollen, doch Richter Kirejew legte das vorher so schnell durchgepeitschte Verfahren für alle überraschend urplötzlich zwei Wochen auf Eis. Dass nach den Schlussplädoyers vergangenen Freitag wiederum eine Pause bis 11. Oktober festgesetzt wurde, deutet nach Ansicht des Kiewer Politologen Kyryl Savin darauf hin, dass man in Kiew eine für alle passende, gesichtswahrende Lösung sucht. Nicht ganz einfach: Ein Freispruch wäre schließlich eine Blamage für Janukowitsch, eine Verurteilung stellt die EU nicht zufrieden. Und eine bedingte Strafe, worüber spekuliert wurde, verunmöglicht Timoschenko eine Teilnahme an den nächsten Präsidentenwahlen - und würde so, wie EU-Politiker klargestellt haben, ebenfalls als politische Repression gewertet.

Um eine Eskalation zu vermeiden und sein Gesicht zu wahren, bleibt Janukowitsch wohl nur noch ein abenteuerliches Spiel über die Bande. Politologe Savin erklärt ein mögliches Szenario: "Man erwartet, dass Timoschenko zunächst verurteilt wird und dass das Urteil hart ausfällt. Kurz darauf dürfte allerdings das Parlament jenes Gesetz, das die Basis für den Spruch darstellt, so abändern, dass Timoschenkos Delikt straffrei ist." Damit wäre die Ex-Regierungschefin frei - und könnte auch an Wahlen teilnehmen. Für diese Variante spricht auch, dass eine Änderung des Strafgesetzbuches gerade im Parlament verhandelt wird. Nächste Woche, rechtzeitig vor der zweiten Lesung des Gesetzes, könnte das Urteil ergehen - und kurz darauf Timoschenkos Pardonierung folgen. Am 20. Oktober, wenn Janukowitsch in Brüssel weilt, sollte der Fall abgeschlossen sein.

Könnte, sollte - in Brüssel ist man offenbar noch skeptisch: Am Montag bereiten die EU-Außenminister in Luxemburg über mögliche Reaktionen auf das Urteil.