Dem ukrainischen Präsidenten steht das Wasser bis zum Hals.| Premierminister Mykola Asarow muss gehen, die umstrittenen Gesetze gegen die Demonstranten werden zurückgenommen.
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Kiew/Moskau. Es war keine gewöhnliche Parlamentssitzung, die am Dienstag in Kiew stattfand. Erstmals nach den blutigen Ereignissen der Vorwoche fanden sich die Abgeordneten der Werchowna Rada wieder im Sitzungssaal des Parlaments ein, stimmten gemeinsam die Nationalhymne an und legten eine Schweigeminute für jene Demonstranten ein, die bei den Protesten im Zentrum von Kiew getötet worden waren.
Dann folgte der Paukenschlag: Mykola Asarow, der in die Kritik geratene Premierminister, reichte seinen Rücktritt ein. Der Abgang des Sohnes eines Esten und einer Russin, der 1980 nach Donezk gezogen war und im Windschatten des jetzigen Präsidenten Wiktor Janukowitsch Karriere gemacht hatte, war eine der zentralen Forderungen der Opposition gewesen. Asarow begründete seinen Schritt mit der "Konfliktsituation, die sich im Land eingestellt hat". Um "zusätzliche Möglichkeiten für einen gesellschaftlich-politischen Kompromiss zu schaffen", trete er zurück. Mit dem Premier trat auch die Regierung ab. Dass Janukowitsch seinen treuen Weggefährten opfern muss, zeigt, dass ihm das Wasser bis zum Hals steht. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko sprach von einem "Schritt zum Sieg", aber - so wie die inhaftierte Ex-Premierministerin Julia Timoschenko - auch davon, dass die Demission des Premiers nicht genüge. Er fordert den Abgang des Präsidenten.
Asarows Rücktritt war am Dienstag nicht das einzige Zugeständnis Janukowitschs an die Opposition: Die Abgeordneten in der Rada stimmten außerdem in seltener Harmonie für die Aufhebung von neun von 12 jener umstrittenen Gesetze, mit denen vor zwei Wochen unter anderem das Demonstrationsrecht drastisch verschärft worden war. Janukowitsch hatte nach Gesprächen mit der Opposition die Rücknahme der umstrittenen neuen Regelungen bereits am Montagabend angekündigt. Die am 16. Jänner im Schnellverfahren erlassenen Gesetze, die Strafen etwa für das Tragen von Helmen, das ungenehmigte Errichten von Bühnen oder das Besetzen öffentlicher Gebäude vorsehen, hatten zu einem erneuten Anschwellen der Proteste und zum Tod mehrerer Menschen geführt.
"Innenminister vor Gericht"
Ob der Rücktritt der Regierung Asarow und die Annullierung ihrer Gesetze aber genügen, um den Zorn der prowestlichen, ukainisch-nationalen Demonstranten zu bändigen, ist mehr als fraglich. "Die Leute wollen, dass die Verantwortlichen für die brutalen Polizeieinsätze, allen voran Innenminister Vitali Sachartschenko, vor Gericht gestellt werden", sagt Yevhen Lozhkin, der Obmann des vor kurzem gegründeten Vereins "Demokratische Ukraine" in Wien. "Wenn gegen Sachartschenko, der für die jüngsten Folterungen, für den Umgang mit Gefangenen, für das Entführen und Töten von Menschen verantwortlich ist, ernstzunehmende Ermittlungen in Gang kommen, würde das Eindruck machen", meint Lozhkin. "Danach sieht es aber jetzt noch nicht aus. Auch Asarow ist ja nicht suspendiert worden, sondern hat selbst, aus freien Stücken, auf sein Amt verzichtet - das ist noch keine ernsthafte Kurskorrektur von Janukowitsch", meint der junge Mann aus Kirowograd, einer Stadt südöstlich von Kiew.
Stärkeres Parlament?
Obwohl der Machtkampf in der Ukraine weiter schwelt, bot das Parlament am Dienstag ein Bild seltener Einigkeit. Eine breite Mehrheit aus Regierung und Opposition peitschte fließbandartig die Aufhebung der umstrittenen Gesetze durch - erst am Nachmittag geriet das Fließband ins Stocken: als es um die Amnestie für die festgenommenen Anti-Janukowitsch-Demonstranten ging. Die Frage soll erst am heutigen Mittwoch entschieden werden. Bedingung für die Amnestie ist allerdings, dass sich die Aktivisten aus besetzten Ministerien zurückziehen und ihre im Zentrum mittlerweile allgegenwärtigen Barrikaden abbauen.
Wie viel an politischem Terrain Janukowitsch schon eingebüßt hat, zeigt vor allem der Umstand, dass er in Gefahr gerät, seine im Jahr 2010 erworbenen Kompetenzen abgeben zu müssen. Im Gespräch ist derzeit nämlich auch die Einsetzung einer Kommission zur Änderung der Verfassung. Janukowitsch war es im Herbst 2010 gelungen, so viele Parlamentsabgeordnete auf seine Seite zu ziehen, dass er sich jene Rechte, die sein Vorgänger Wiktor Juschtschenko 2005 abgeben musste, wieder zurückholen konnte - die Ukraine war abermals zur Präsidialrepublik geworden. In den folgenden Monaten und Jahren baute der Mann aus dem Donbass dazu noch seine Kontrolle über den Justizapparat aus. All das soll er nun wieder abgeben, wenn es nach dem Willen der Opposition geht. Die Ukraine soll wie unter Juschtschenko wieder zu einer parlamentarischen Republik werden.
In der EU wurde Asarows Rücktritt begrüßt. "Der Rücktritt des Ministerpräsidenten könnte den Eintritt in die Suche nach politischen Kompromissen möglich machen", sagte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Dienstag in Berlin. Zusammen mit seinem niederländischen Amtskollegen Frans Timmermans warb er für eine enge Abstimmung innerhalb der Europäischen Union. "Natürlich müssen wir über Sanktionen nachdenken. Sie werden nicht zu vermeiden sein, wenn die Lage nicht veränderbar ist. Nur: Man muss das kalkuliert einsetzen."
Steinmeier: "Kein Belarus"
Steinmeier warnte davor, die Ukraine auf den "Status von Weißrussland" herunterzusetzen, wo wegen der autokratischen Herrschaft von Präsident Alexander Lukaschenko EU-Sanktionen in Kraft sind. Beide Minister mahnten eine gewaltlose Lösung des Konflikts an. Die EU wolle Unterstützung leisten.
Die US-Ratingagentur Standard & Poor’s hat angesichts der politischen Krise in der Ukraine die Kreditwürdigkeit des Landes herabgestuft. Standard & Poor’s senkte die Note am Dienstag um eine Stufe von B- auf CCC+. "Die politische Instabilität in der Ukraine hat sich beträchtlich vergrößert", hieß es in einer Erklärung. "Nach unseren Kriterien ist die Ukraine von nun an als Land anzusehen, in dem die Zivilgesellschaft sich in Not befindet und die politischen Institutionen geschwächt sind."