Warum der Inselstreit zwischen China und Japan nichts mit Nationalismus zu tun hat.
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Der Konflikt um die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer setzt sich fort: Erst am 4. November drangen wieder chinesische Überwachungsschiffe in den japanischen Seeraum rund um die unbewohnten Inseln ein - es war bereits der elfte Verstoß, seit Japan Anfang September drei der fünf Inseln verstaatlicht hatte. Warum gehen die Wogen auf beiden Seiten so hoch, handelt es sich doch bloß um ein paar Felsen in tiefer See? Wer die Antwort im Nationalismus sucht, liegt falsch: Japan hat ganz klare wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen.
Im Meeresboden rund um die Senkaku-Inseln liegen vermutlich Ressourcen, die dem Land wirtschaftlich wieder auf die Beine helfen könnten: Schätzungen der US-Energiebehörde Energy Information Administration gehen von 60 bis 100 Millionen Barrel Öl aus, die rund um die strittigen Inseln im Boden schlummern. Für ein Land wie Japan sind das Rohstoffe von unermesslichem Wert. Aus zwei Gründen: Einerseits ist Japan stark von Rohstoffimporten abhängig. Allein heuer hat das Land von Jänner bis August Rohöl im Wert von 35 Milliarden Dollar aus Nahost importiert. Das entspricht mehr als einem Drittel des Gesamtbudgets Österreichs. Andererseits steht Japan eine Energiekrise ins Haus: Bis zum Jahr 2011 produzierte Japan 30 Prozent seines Stroms mit AKW. Durch die Kernschmelzen in Fukushima-Daiichi ist Atomenergie keine Option mehr. Mittlerweile hat sich die Regierung darauf geeinigt, bis 2040 alle Kernreaktoren vom Netz zu nehmen. Der öffentliche Druck für einen früheren Ausstieg ist enorm: Laut einer Umfrage der "Asahi Shimbun" wollen 58 Prozent der Bevölkerung einen Atomausstieg binnen eines Jahrzehntes. Da stellen die Öl- und Gasvorkommen rund um Senkaku eine Alternative dar, die rasch Abhilfe schaffen könnte.
Sicherheitspolitisch ist der Inselstreit für Japan von Vorteil. Durch die Ambitionen des Gouverneurs von Tokio, Shintaro Ishihara, die Inseln zu kaufen, war die Regierung zum Handeln verpflichtet: Besser, die Inseln sind in der Hand des Staates als in der eines nationalistischen China-Falken. Die Sicherheit zu diesem Schritt gab Tokio das Verteidigungsbündnis mit den USA. Zu diesem Zeitpunkt kein ungefährlicher Schachzug, da sich Japan nicht sicher sein konnte, ob sich die USA tatsächlich in solch einer brisanten Angelegenheit eindeutig auf seine Seite stellen würden. Aber so zwang Japan die USA zu einer klaren Aussage: Am 19. September versicherte US-Verteidigungsminister Leon Panetta in einem Treffen mit Xi Jinping, damals Staatschef in spe von China, dass die Senkaku-Inseln durch Artikel fünf des Sicherheitsabkommens abgedeckt seien. Im Falle einer Aggression Chinas wären die USA dazu verpflichtet, Japan zu Hilfe zu eilen.
Ginge es beiden Seiten bloß um einen nationalistischen Konflikt, wäre die Situation bereits eskaliert. Dazu ist man wirtschaftlich viel zu abhängig voneinander. Aus der Sicht Japans ist das Kalkül klar: Man nimmt kurzfristige Spannungen in Kauf, um sich gut neben China im Pazifik-Raum platzieren zu können und größer werdende Abhängigkeiten zu vermeiden.