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Japans neuer Nationalismus: Die Fahne und die Hymne Kimigayo

Von Judith Brandner

Politik

15. August 2000, der 55. Jahrestag der japanischen Kapitulation. Im Yasukuni-Schrein in Tokio haben sich auch heuer wieder japanische Kriegsveteranen zum Gedenken an ihre gefallenen Kameraden eingefunden. Das Shinto-Heiligtum im Herzen der japanischen Hauptstadt ist von eminent politischer Bedeutung - werden doch bis heute dort auch die Seelen von Kriegsverbrechern verehrt...


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Wenn - was immer wieder vorkommt - ein hochrangiger Politiker offiziell diesen Schrein besucht, gehen vor allem in Asien die Wogen der Empörung hoch, denn damit werden Erinnerungen an längst vergangen geglaubte Zeiten geweckt.

An die Vergangenheit fühlte sich auch in diesem Frühsommer so mancher erinnert, als der konservative Ministerpräsident Mori mitten im Wahlkampf Japan als "göttliches Land mit dem Tenno, dem Kaiser im Mittelpunkt" bezeichnete. Der umstrittene Satz fiel am 15. Mai, bei einem Treffen der rechtsgerichteten politischen Shinto Liga - einer Vereinigung von Shinto-Priestern und Parlamentariern, die sich für eine Wiederbelebung des Staatsshintoismus starkmachen.

Großes Entsetzen

Entsetzen und Aufregung im Land waren groß; unter medialem Druck entschuldigte sich Mori schliesslich - allerdings nicht für die Äusserung, sondern für die Missverständnisse, die er damit in der Öffentlichkeit hervorgerufen habe. Er sei falsch interpretiert worden und bekenne sich natürlich zur Verfassung, mit dem Prinzip, daß die Souveränität bei der Bevölkerung liege und nicht beim Kaiser.

Doch die Empörung blieb, vor allem als Mori später noch einige weitere "missverständliche Aussagen" nachschob. Revisionistische Aussagen seien ja in Japan nicht wirklich etwas Neues, meint Kulturphilosoph Ken'ichi Mishima, doch diesmal hätten diese eine neue Qualität erreicht. Denn kurz darauf bezeichnete Mori Japan mit einem Terminus aus der Zeit des Militarismus als "nationale Einheit".

Was Mishima mit einem Vergleich veranschaulicht: "Das ist so, als würde ein deutscher Politiker sagen, wir gehören der arischen Rasse an! Das wäre ja sogar in Bayern eine Katastrophe!" Für den renommierten Wissenschafter der Universität Osaka ein weiterer Mosaikstein in einer Reihe nationalistischer Tendenzen, die er in jüngster Zeit in Japan beobachtet.

Brüche in der Gesellschaft

Japans Wirtschaft kämpft nun schon seit einem Jahrzehnt mit großen Problemen, neue Phänomene wie hohe Jugendarbeitslosigkeit und steigende Jugendkriminalität erschüttern das Bild einer harmonischen, konfliktfreien Gesellschaft.

"In dieser Situation setzen unsere Politiker verstärkt auf klassische Tugenden und traditionelle Werte, um das Land zusammenzuhalten", sagt Mishima: "So hat sich der Nationalismus eingeschlichen".

Was wäre ein geeigneteres Mittel, an die japanische Identiät der jungen Leute zu appellieren, sie an ihre Kultur und ihr nationales Erbe zu erinnern, als durch Nationalflagge und Nationalhymne?

Das dachten wohl die, die um die Moral der Jugendlichen fürchten und diesen Mangel für ihre steigende Gewaltbereitschaft verantwortlich machen. Und so wurde Fahne und Hymne im Juli 1999, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, neuerlich offizieller Status verliehen.

Schon bisher wurde bei Turnieren des Nationalsports Sumo oder bei Olympischen Spielen die Nationalhymne Kimigayo gesungen und Hinomaru gehisst, die Flagge mit dem tiefroten Kreis auf weißem Untergrund, die die aufgehende Sonne symbolisiert.

Vor allem alte Leute können sich jedoch auch noch an Zeiten erinnern, als Kimigayo zu Ehren Kaiser Hirohitos gesungen wurde - während des Krieges, als Hirohito als Gott galt. Die Regierung sprach hingegen von einer "Normalisierung des Landes, in dem Patriotismus nicht automatisch als etwas Negatives angesehen werden sollte".

Das entsprechende Gesetz sei im Vorjahr urplötzlich und im Schnellgang verabschiedet worden, erinnert sich die Verfassungsrechtlerin Noriko Wakao besorgt. Denn auch andere Gesetze würden in jüngster Zeit im Eilzugstempo erlassen oder verändert. Oft werde über mehrere hundert Gesetze in einem abgestimmt, für die Bevölkerung seien so inhaltliche Auswirkungen nicht mehr nachvollziehbar.

Für ähnlich undurchschaubar hält Wakao auch die neu aufgeflammte Verfassungsdebatte. Zu Jahresbeginn wurde im Parlament in Tokio ein Verfassungsreform-Komitee eingesetzt, das Änderungsvorschläge ausarbeiten soll.

Der "Friedensartikel"

Schon in der Vergangenheit haben Politiker der Rechten immer wieder die Abschaffung von Artikel 9 gefordert.

Artikel 9 gilt als der "Friedensartikel", er legt fest, dass das japanische Volk als Souverän des Staates dem Krieg abschwört und kein eigenes Heer hat.

Japans Militär besteht ja aus sogenannten Selbstverteidigungstruppen, für die jährlich nicht mehr als 1% des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben werden darf.

Nun könnte Premier Mori selbst mit seinen Aussagen vom göttlichen Japan dafür gesorgt haben, dass die Verfassungsdebatte genau beobachtet wird, meint Politikwissenschafter Kiichi Fujiwara. "Der Kaiser ist ein Reizwort. Kein Japaner möchte eine Rückkehr zu diesem Vorkriegsmilitarismus mit dem Kaiser im Mittelpunkt! Und da unsere Verfassung dem Kaiser eine Rückkehr zu seiner Vorkriegsposition untersagt, ist die Bevölkerung schon aus diesem Grund gegen eine Revision."

Symbole der Grausamkeit

Ähnlich besorgt reagierten viele in Japan auf die offizielle Installierung von Fahne und Hymne, sehen sie darin doch nach wie vor die Symbole, unter denen die japanischen Truppen einst ihre asiatischen Nachbarländer kolonialisierten und dort zahlreiche Grausamkeiten verübten. Nach Kriegsende hatte die amerikanische Besatzungsmacht zunächst Fahne und Hymne als militaristische Symbole verboten, später jedoch deren Verwendung erlaubt.

Nicht nur den Asiaten ist heute bei dem Gedanken nicht wohl, dass die einstigen Symbole des Militarismus nun dazu dienen sollen, die patriotischen Gefühle japanischer Jugendlicher zu fördern.

Denn um die Jungen geht es vor allem: was schon bisher an öffentlichen Schulen erwünscht, aber nicht obligatorisch war, wird nun per Ministerialerlass durchgesetzt: während der wichtigsten Schulzeremonien wird die Fahne gehisst und die Hymne gesungen.

Umfragen berichten von einer nahezu 100%igen Einhaltung des Gesetzes an den Schulen - obwohl niemand dazu gezwungen werden kann, sich in Richtung Fahne zu verbeugen, oder mitzusingen, wenn die Hymne abgespielt wird. Doch Widerstand kostet Mut und Kraft, manchmal mehr, als jemand aufbringen kann. In Hiroshima beging im Vorjahr der Direktor einer High School Selbstmord, nachdem der Druck der örtlichen Erziehungsbehörde auf ihn zu groß geworden war.

Sorgen unbegründet?

Die Sorge vor einem neuen Militarismus in Japan sei trotz dieser Entwicklungen derzeit unbegründet, meint Ken'ichi Mishima. Zu sehr sei Japan heute wirtschaftlich in das globale Netz eingebunden, als dass man sich einen derartigen Rechtsrutsch leisten könne. Vieles werde in Zukunft davon abhängen, wie sich Japan zu seiner Vergangenheit stelle, oder welche Bedingungen es für die Asiaten schaffe, die heute in Japan leben und arbeiten. Gebe es diesbezüglich keine positiven Signale, so sehe er die Zukunft eher düster, sagt Mishima. Und die Welt könnte Japan allzu leicht als eine Art geschützte Tierart betrachten - eine Tierart, vor der man den Rest der Welt schützen muss, fügt er ironisch hinzu.