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Je mehr Putin Stärke zeigen will, desto schwächer wirkt er

Von David Ignatius

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Das politische System Russlands gleicht immer mehr einer korrupten orientalischen Gewaltherrschaft.


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"Wenn der Feind eine falsche Bewegung macht, müssen wir gut achtgeben, ihn nicht dabei zu stören", soll Napoleon während einer Schlacht 1805 gewarnt haben. "Halte deinen Feind niemals auf, wenn er gerade einen Fehler macht", wird dieses Zitat manchmal auch überliefert. Wie auch immer der genaue Wortlaut war, der Rat ist ein nützlicher Ausgangspunkt, um über die Lage in der Ukraine nachzudenken.

Wladimir Putin hat mit der Invasion der Halbinsel Krim einen Fehler gemacht und damit die Krise, die seit vielen Monaten gärt, verschlimmert. Putins Sehnsucht nach der Vergangenheit zeigte sich auch bei den Olympischen Winterspielen. Wie David Remnick vorige Woche im "New Yorker" feststellte, betrachtet Putin den Fall der Sowjetunion als einen "tragischen Fehler", und die Spiele zelebrierten seine Sichtweise, dass Russland wieder stark ist. Diese Haltung verleitete Putin zu dem, was US-Außenminister John Kerry einen "schamlosen Akt der Aggression" nennt. Kerry forderte Putin auf, "diesen Akt der Aggression rückgängig zu machen". Putin würde sich selbst enormen Schaden ersparen, wenn er Kerrys Rat folgte. Das ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Je mehr Putin die Stärke Russlands beweisen will, umso schwächer wird das Land erscheinen.

In Anbetracht von Washingtons Monomanie vielleicht unvermeidlich war in den Vereinigten Staaten das große Thema in den letzten Tagen nicht Putins verbrecherischer Angriff auf die Krim, sondern die Frage, ob Obama ihn dazu ermutigte, indem er nicht ausreichend die Muskeln spielen ließ. Es gibt viel stichhaltige Kritik an Obamas Außenpolitik, besonders was Syrien betrifft, aber die Vorstellung, dass an Putins Angriff irgendwie die USA schuld sind, ist pervers. Seit zwei Monaten drängt die US-Regierung die Europäische Union, die Krise in der Ukraine ernster zu nehmen. Laut US-Geheimdiensterkenntnissen verlor Putin mit dem pro-russischen ukrainischen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch die Geduld und forderte von ihm noch mehr Härte gegenüber den Demonstranten.

Was Putin am wenigsten versteht: Das Zentrum der Schwerkraft der früheren Sowjetunion hat sich nach Westen verlagert. Ehemalige Sowjetsatelliten wie Polen und Tschechien sind erfolgreiche Mitglieder der EU. Die ex-jugoslawischen Staaten haben den blutigen Zusammenbruch überlebt. Die meisten sind heute starke Demokratien. Auch die Ukraine war auf dem Weg zur EU, als Janukowitsch im November plötzlich die Verhandlungen abbrach und von Putin dafür umgerechnet 15 Milliarden Dollar zugesagt bekam. Von Jahr zu Jahr gleicht das politische System Russlands mehr einer korrupten orientalischen Gewaltherrschaft. Die Alternative wäre, dass die Ukraine Russland dazu bewegen kann, sich mit ihr Richtung Westen zu bewegen.

Putins Russland könnte noch mehr Fehler machen. Wir könnten in der Ukraine eine kaskadenartige Kette von Missgriffen zu sehen bekommen. Es würde mich freuen, wenn wir das - entgegen Napoleons Rat - verhindern könnten, aber Kremlführer Putin besteht darauf, das Falsche zu tun.

Übersetzung: Redaktion

David Ignatius in English