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"Jede Haut ist wie ein Buch"

Von Hans-Paul Nosko

Wissen
An ihr kann man sich die Finger verbrennen: Die metallene "Main chaude" (l.) bringt Handschuhe auf die gewünschte Größe. Meister Jean-Marc Fabre im Atelier.
© Maison Fabre

Die südfranzösische Stadt Millau ist ein altes Zentrum der Handschuhindustrie des Landes. - Ein Besuch in der renommierten Manufaktur Fabre.


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"Wenn ein junger Mann beim Vater seiner Angebeteten wegen einer künftigen Eheschließung vorstellig wurde, musste er unbedingt Handschuhe tragen", erzählt Christine Vanicate. Und das ist noch nicht allzu lange her. Bis in die 1970er Jahre bestand diese Verpflichtung für französische Brautwerber. Christine ist Führerin im Museum von Millau, das einen großen Teil seiner Räumlichkeiten der Handschuhmacherei widmet: Die südfranzösische Kleinstadt war seit dem 19. Jahrhundert eines der Zentren der Handschuhindustrie des Landes.

Von der Ganterie lebte Millau bis in die Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts recht gut: 1963 waren rund 6000 der damals rund 20.000 Einwohner in Handschuhfabriken beschäftigt, deren es mehr als 80 gab. Danach ging es mit der Branche rapide bergab. "Das Kleidungsstück kam aus der Mode", sagt Vanicate. Dazu trat eine immer stärkere Konkurrenz aus Asien, die den europäischen Markt mit Billigprodukten überschwemmte.

Krise der Branche

Heute arbeiten nur noch etwa hundert Leute in den Handschuhmanufakturen von Millau, deren Zahl auf fünf zurückgegangen ist. Eine davon ist die "Maison Fabre", etwas abseits des Zentrums gelegen und mit einem distinguierten Anstrich versehen: Die Außenmauer in kräftigem Rot, die Fensterumrahmungen in strahlendem Weiß. "Unser Haus besteht seit 1924", berichtet Jean-Marc Fabre. Der 52-Jährige führt das Unternehmen gemeinsam mit seinem Bruder Olivier in der nunmehr vierten Generation. Auch sein Betrieb blieb von der Krise der Branche nicht verschont: Beschäftigte Fabre vor 50 Jahren noch 350 Personen, so sind es heute gerade einmal 16 Leute, die in der Produktion arbeiten.

Das Unternehmen ist im exquisiten Segment angesiedelt. Die Preise für ein Paar Handschuhe bewegen sich bei einfacheren Ausführungen zwischen 130 und 180 Euro, die Luxuskategorie liegt bei 250 Euro, und Modelle etwa aus Krokodilleder "haben keinen Preis", wie der Firmenchef trocken anmerkt.

Zu den Kunden des Traditionshauses zählen hochdekorierte Künstler ebenso wie gekrönte Häupter. "Wir haben für Gracia Patricia von Monaco Handschuhe gemacht", erzählt Fabre. Als ihr Leben im Jahr 2014 verfilmt wurde, fertigte das Unternehmen nach Fotos der Originale die gleichen Handschuhe für Nicole Kidman an, die die 1982 verstorbene Monarchin verkörperte.

Für den Film "La Belle et la Bête", den Jean Cocteau 1946 drehte, wurde das Haus mit der Anfertigung der riesigen Handschuhe für Jean Marais beauftragt, der das sanfte Ungeheuer spielte. Knapp 70 Jahre später stand eine Reprise an: Zum fünfzigsten Todesjahr von Cocteau 2013 wurde das Handschuhpaar noch einmal gefertigt. "Das waren sechs Monate Arbeit", erinnert sich Fabre.

Bei Maison Fabre in Millau in Südfrankreich.
© Maison Fabre

Insgesamt fertigt das Unternehmen rund 11.000 Paar Handschuhe pro Jahr. 95 Prozent davon aus Lammleder, der kleine Rest aus Ziegen- und Rindsleder. Ein Teil wird in Heimarbeit produziert, der andere in den Ateliers von Fabre. Letztere sind das Reich von Stephanée Cazares, die den Titel "Chef d’Atelier" trägt.

"Zuerst muss man das Leder auswringen", erklärt sie und demonstriert diesen Schritt. Dies dient dazu, die Fasern im Leder zu zerreißen, um es elastisch zu machen. Dann zieht die Fachfrau das Lederstück über der Kante des Arbeitstisches hinauf und hinunter, dehnt es dadurch und legt es sodann auf den Tisch. Jetzt kann man kleine Fehler in der Struktur erkennen, die Cazares mit dem Fingernagel markiert.

Fingerspitzengefühl

"Jede Haut ist wie ein Buch, man kann darin lesen", sagt sie. Nun muss geprüft werden, an welcher Stelle des Lederstücks die Fingerspitzen der Handschuhe, an welcher Stelle die Manschetten ihren Platz haben werden. Sie dreht das Werkstück um 90 Grad, jetzt liegt es richtig für den Schnitt: "Jedes Leder hat seine eigene Richtung", erklärt sie. So wie Holz, das auch nur in einer bestimmten Richtung geschnitten werden sollte. Hier geht es darum, die gegerbte Haut so zuzuschneiden, dass sie sich später bestmöglich über der Hand dehnt.

Erst danach wird die Schablone angelegt, um die herum ein Viereck ausgeschnitten wird, das etwa der Größe des Handschuhpaares entspricht. Dieses wird im nächsten Raum über eine Metallform gelegt, mit einer Metallplatte fixiert, worauf eine Maschine das Handschuhpaar nach gewünschter Größe ausschneidet.

Anschließend folgt die Arbeit an der Nähmaschine. "Genäht wird immer von außen, damit der Handschuh angenehm zu tragen ist", sagt Cazares. Um zu kontrollieren, ob dieser auch nicht das kleinste Loch aufweist, fährt sie mit einem gabelartigen hölzernen Apparat, dem "Fuseau", hinein. Erhält der Handschuh ein Seidenfutter, so wird er zusätzlich mit einer hölzernen Hand aufgedehnt. Darauf folgt die Finissage des Randes.

Am Schluss wird der Handschuh über die "Main chaude" gezogen: eine steil in die Höhe ragende flache Hand samt Unterarm aus Metall, die heißer als ein Bügeleisen aufgeheizt wird und den Handschuh einerseits auf die gewünschte Größe bringt, ihn andererseits glatter macht. "Man sollte die Main Chaude nicht berühren", warnt die Atelier-Chefin. Was nicht immer gelingt: "Ich habe auch ein paar Narben davon", gesteht sie.

Erwartet wird, dass eine Mitarbeiterin - es sind fast durchwegs Damen - pro Tag acht bis zehn Paar Handschuhe fertigt. "Bis jemand dieses Tempo erreicht, braucht es zwei Jahre", weiß Cazares. Hier geht es, wie der Geschäftsmann sagen würde, um Produktivität. Vor einiger Zeit jedoch wurde klar, dass etwas Grundsätzliches auf dem Spiel stand: Das Fachwissen, um künftig überhaupt qualitativ hochwertige Ware produzieren zu können.

Um dieses "Savoir faire" umfassend zu bewahren und laufend zu erweitern, startete das Unternehmen eine Ausbildungsoffensive: Das Haus Fabre installierte ein eigenes Programm für Wissensmanagement, das im Vorjahr zu einer Zusammenarbeit mit einem Technikgymnasium in der Nähe von Grenoble führte. Seit Kurzem kommt ein Professor dieser Schule zu Fabre, um hier sein Wissen weiterzugeben.

Das Geschäft selbst hat sich gewandelt. Wenn Jean-Marc Fabre im Jänner in den Pariser Salons die Modelle für den heimischen Markt und im März für das Ausland vorstellt, muss er von Mal zu Mal feststellen: "Die Kunden wünschen sich immer kompliziertere Anfertigungen." Verzierungen mit Schnallen, mit Pompons oder mit Stickereien etwa.

Modelle mit Geschichte

Und natürlich muss ein Unternehmen, will es auf dem Markt bestehen, in manch anderer Hinsicht mit der Zeit gehen. So stellt Fabre seit einiger Zeit Handschuhe her, deren Fingerspitzen aus einem speziell gegerbten Leder bestehen, mit dem man ein Smartphone bedienen kann.

Die Hälfte der Jahresproduktion wird in Frankreich abgesetzt, vor allem in den Pariser Großkaufhäusern wie Galeries Lafayette. Die andere Hälfte geht in den Export. "Wir beliefern Italien, Deutschland und die Schweiz, aber auch die USA, Kanada sowie China, Japan und Südkorea", zählt der Chef auf.

Das Stammhaus in Millau verfügt selbstverständlich auch über eine Boutique. Wer nicht eines der hier ausliegenden Modelle kaufen will, sondern eine Maßanfertigung wünscht, muss mit etwa 15 Tagen Wartezeit rechnen.

Tour-de-France-Häkelarbeit von Fabres Großmutter.
© Nosko

Anlässlich der Tour de France, die in diesem Sommer erstmals seit mehr als zwanzig Jahren wieder in Millau Station machte, hatte Fabre ein ganz besonderes Modell im Schaufenster liegen: Halb Leder, halb Stickerei, in den Nationalfarben Blau, Weiß, Rot, das Ganze ohne Finger, wie Radrennfahrer dies tragen. Die Geschichte dahinter ist fast filmreif. "Ich habe kürzlich in unserem Haus ein paar alte Schachteln gefunden, in denen die gehäkelten Teile dieser Handschuhe lagen", erzählt Fabre. "Sie stammen aus Beständen meiner Großmutter aus den Sechziger Jahren." Der Hausherr entschied sich, die dazu passenden Lederhälften herzustellen und bot eine limitierte Auflage von 27 Paar an - 28 Originalhäkelarbeiten hatte er gefunden, ein Paar behielt er sich als Souvenir.

Zum Thema "Fußballweltmeisterschaft" kreierte Fabre nichts Spezielles: "Wir erzeugen keine Tormannhandschuhe." Was das Haus hingegen führt, sind Modelle für Reiter, Golfer und Polospieler. Auch eine Linie für Automobil-Clubs existiert. Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden noch Handschuhe für die Feuerwehr, die Polizei und das Militär produziert.

Stadt der Lederzünfte

In der Boutique hängen neben den Handschuh-Vitrinen Jacken und Gürtel. Diese stammen von anderen Firmen und werden am Ende von hausinternen Führungen zum Kauf angeboten. "Touristen kaufen nicht so oft Handschuhe", weiß Fabre. Ein kleiner Zusatzverdienst: In einem hart umkämpften Markt zählt jede Nische. Zwei Söhne hat Jean-Marc Fabre. Die fünfte Generation, die einmal den Betrieb führen wird? "Wer weiß", antwortet der Chef lächelnd.

Geht man durch die Straßen von Millau, kann man sich schwerlich vorstellen, dass die Lederverarbeitung und mit ihr die Handschuherzeugung irgendwann aus dem Stadtbild verschwinden sollte. Allenthalben trifft man auf ein "Magasin de Gants", auf einen "Fabricant de ceintures", der Gürtel herstellt, oder auf eine "Vente de peauxen détail", wo man Lederhäute erstehen kann. Und im Herzen der Stadt, auf der von Platanen bestandenen Place Foch, befindet sich das Musée de Millau, in dem Christine Vanicate arbeitet. Hier kann man den Ausschnitt aus "La Belle et la Bête" sehen, wo Jean Marais die berühmten Fabre-Handschuhe trägt. Auch Rita Hayworth oder Isabelle Huppert sind filmisch in "Handschuhszenen" vertreten.

Für Christine, die über sämtliche Details der wirtschaftlichen und modischen Entwicklung der Branche Bescheid weiß, wird der Handschuh auch immer mit einer sehr persönlichen Erinnerung verbunden sein. Sie musste jeden Sonntag zur Messe Handschuhe tragen: halb Leder, halb Stickerei - freilich in weit dezenterer Ausführung als das Tour-de-France-Modell von Fabre.

Hans-Paul Nosko, geboren 1957, hat Rechts- und Staatswissenschaften studiert und lebt als Journalist und Kolumnist in Wien