Zum Hauptinhalt springen

Jeder Held hat seine dunkle Seite

Von Walter Hämmerle

Analysen
© Warner Bros.

Einst galt für Politiker der Satz: "Ohne die Partei bin ich nichts." Heute ist es umgekehrt. Eine riskante Entwicklung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wer sich über den Parteien wähnt, ist nicht unpolitisch, sondern gefährlich", diktierte Jürgen Habermas nun anlässlich der Wahlen in Frankreich der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" ins Mikrofon. Die Parteien als Herz der Demokratie: So lautete über Jahrzehnte hinweg der erste Satz des politischen Glaubensbekenntnisses für Europa. Nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern auch noch, als das Vertrauen in die althergebrachten Institutionen des Parteienstaats längst zu erodieren begann, der Glauben der Regierten an die Regierenden wankte.

Habermas, der mit seinem Denken die Krise der Moderne und deren Folgen für unsere Demokratie, ja unser Zusammenleben zu erfassten sucht, richtete die Speerspitze seines Satzes nicht gegen Marine Le Pen, gegen die sich ohnehin alle wenden. Habermas hatte Emmanuel Macron im Sinn, ausgerechnet ihn, den neuen Hoffnungsträger, auf den sich jetzt erwartungsfroh und optimistisch die Blicke all jener richten, die Europa - und Frankreich - lieber behutsam renovieren wollen, als erst mit der Abrissbirne für einen sauberen Neustart zu sorgen.

Natürlich sieht auch der Philosoph die Chance, dass mit einem Präsidenten Macron die alten, kompromiss- und bewegungsunfähig gewordenen Lager neu gruppiert und aufgestellt werden; dass es so etwas wie die "schöpferische Kraft der Zerstörung", die - laut dem österreichischen Ökonom Joseph Schumpeter - dem Kapitalismus seine kreative Dynamik verleiht, mitunter auch für die Demokratie benötigt. Eben weil sich die beharrenden Kräfte beharrlich jeder Reform verweigern.

Aber der 87-jährige Habermas ist nicht blind für die Gefahr, die darin liegt, dass sich ein 39-jähriger Volkstribun erhebt und von den Massen auf den Schild gehoben wird. Zumal die Franzosen zu ihren Präsidenten eine kaum verhüllte politerotische Beziehung pflegen. Die neuen Zeiten stellen den etablierten Parteien die Rute ins Fenster, und zwar allen und ausnahmslos. Das ist hoch an der Zeit. Der Satz "Ohne die Partei bin ich nichts", gesprochen von Fred Sinowatz, Kanzler der Republik Österreich von 1983 bis 1986, klingt heute wie ein eingefrorener Posthornton aus einer längst untergegangenen Welt. Italien, einst das erste westliche Land, dessen Parteiensystem Anfang der 1990er Jahre komplett in sich zusammengebrochen ist, kann heute überall und jederzeit passieren. Wobei die Entwicklung kein Naturgesetz ist: Hätte sich François Fillon nicht hoffnungslos in eine peinliche Affäre verstrickt, wäre der Kandidat der Konservativen heute womöglich der sichere Favorit für die Stichwahl. Und Macron hat vor allem deshalb eine eigene Bewegung gegründet, weil ihm seine eigene sozialistische Partei als hoffnungslos rückständig und absolut chancenlos auf den Sieg erschien. Ein Triumph der Systemparteien war also so ausgeschlossen nicht, wie er heute von allen beschrieben wird.

Der Erfolg Macrons reiht sich ein in eine bereits seit längerem zu beobachtende Entwicklung: Die traditionellen Parteiapparate und ihre Funktionäre, einst allmächtig, verlieren rasant an Einfluss zugunsten charismatischer Einzelkämpfer mit einer schlüssigen politischen Erzählung und einem Hang zur Selbstdarstellung. Trotzdem bleibt die erfolgversprechendste Kombination: Partei mit funktionierenden Strukturen in jedem Dorf plus Wunderwuzzi.

Bis vor kurzem saß noch die Partei am längeren Ast: Ohne eine Organisationsstruktur fehlte dem Solotänzer der notwendige politische Hebel, seine Popularität in genügend Wählerstimmen umzumünzen. Damit ist es jetzt vorbei. Die neuen Kommunikationstechnologien haben das faktische Machtmonopol der Parteien gebrochen, und mit den Prozentwerten in den Umfragen steigt auch die Zahl der aktiven Unterstützer fast automatisch mit.

"Wenn sich die etablierten Parteien nicht verändern, werden sie abgewählt", kommentierte der österreichische Außenminister Sebastian Kurz das Ergebnis der Frankreich-Wahlen. Man kann davon ausgehen, dass der schwarze Hoffnungsträger diesen Satz auch an die Adresse der ÖVP gerichtet hat. Kurz weiß, dass er notfalls auch ohne die ÖVP erfolgreich sein könnte, aber leichter wäre es in Kombination. Und ganz genau so stellt sich auch das Verhältnis der SPÖ zu ihrem Chef Christian Kern dar. Beide Politiker wissen, dass ihre Parteien mehr auf sie angewiesen sind als umgekehrt. Und so verhalten sie sich auch.

Die neuen Zeiten haben die Parteien, zumindest vorübergehend, zu dem gemacht, was Politiker eigentlich sein sollten: Diener. Allerdings waren ursprünglich die Bürger als Herren vorgesehen, jetzt sind es ihre Stimmenbringer. Fast könnte man glauben, dass FPÖ und Grüne die letzten Parteien alten Stils sind. Aber nur fast.

Die neue Kräfteverteilung sollte auch Folgen für die Medien haben. Deren Hang zur Personalisierung, die Heldenprosa wie Verteufelung umfasst, spielt den neuen Tribunen in die Hände. Der Blick auf Strukturen und Hintergründe sollte wieder wichtiger werden. Denn Habermas trifft einen Punkt: Die Macht der Tribune braucht Kontrolle.